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von Ludwig Heitmann |
Am Anfang der israelitischen Volksgeschichte steht ein Ereignis, das sich nicht nur diesem Volke als ein bleibendes Erinnerungsbild tief eingeprägt hat, sondern das darüber hinaus zu einem Urbilde des Frömmigkeitslebens in der Kirche Christi geworden ist: Die Wüstenwanderung. Ganz zweifellos liegt der sehr anschaulichen Schilderung des von vielen Unbilden und Gefahren umdrohten, aber auch von göttlicher Hilfe wunderbar geleiteten 40 jährigen Zuges durch die Wüste, die im zweiten Buche Mose aufgezeichnet ist, ein geschichtliches Erlebnis zugrunde. Aber schon der Bericht selber verrät Spuren davon, und die im ganzen Alten Testament wiederkehrende Erinnerung an dies Erlebnis bestätigt es, daß dieser Wüstenzug sehr früh zu einem Grundbilde frommer Erinnerung und geistlicher Erbauung geworden ist. Dieser Strom meditativer Verwertung hat nicht etwa mit dem Ende der israelitischen Volksgeschichte aufgehört, sondern ist in der christlichen Kirche, nun freilich in wesentlicher Vertiefung, erst zur vollen Entfaltung gekommen. In der Kindheitsgeschichte des Evangelisten Matthäus wird das Kind Jesus schon in frühester Jugend den gleichen gefahrumdrohten Weg geführt, als habe dieser Weg nun für alle Zeit geweiht werden sollen, das erfüllende göttliche Geschehen, das in Christus ans Licht gekommen ist, bis an das Ende der Tage in einem einzigartig einprägsamen Bilde zu veranschaulichen. Tatsächlich kehrt die Erinnerung an den Wüstenzug im ganzen Neuen Testament wieder, nicht nur in dem bewußten Zurückgreifen etwa auf das Manna in der Wüste, das Wasser aus dem Felsen, die Empörung und Verlockung der Herzen, die eherne Schlange, die göttliche Hilfserweisung und den hoffenden Ausblick auf das gelobte Land, sondern auch in ganz neuen Geschehnissen wie in der Versuchung Christi in der Wüste und in der Wüstenspeisung. In welchem Maße dies Urbild die fromme Gedankenwelt schon der ersten Gemeinden beherrscht hat, zeigt besonders eindrücklich gerade die gelegentliche Anspielung auf die Erlebnisse des Wüstenzuges bei Paulus (1. Kor. 10). Seither zieht dies Bild durch die ganze Verkündigung, durch die geistliche Literatur, durch alle liturgischen Formen, ja durch die tragende Sitte und Tradition der Kirche, die in der Fastenzeit und in der Freudenzeit den Wüstenzug in das immer wiederkehrende Erleben der christlichen Gemeinde eingeprägt hat. Es ließe sich eine umfangreiche Geschichte dieses durch die Kirche aller Zeiten „mitwandernden” Wüstenerlebnisses schreiben. Diese wenigen Andeutungen aber weisen uns schon darauf hin, daß hier ein meditatives Urbild von einzigartiger Kraft und Tiefe vorliegen muß, das gewiß niemals wird ausgeschöpft werden können, an das wir uns aber immer neu erinnern lassen müssen, um uns die inneren Wege, die unsere Väter zum Heil geführt worden sind, immer neu zu erschließen und ihre segnende Kraft für das Leben der Kirche und das persönliche Leben lebendig zu erhalten. Jedes echte Meditationsbild wird wesentlich durch folgende Merkmale gekennzeichnet. Es ist konkret und anschaulich und doch zugleich universal gültig. Es kleidet sich, gleich weit entfernt von auffallender Aufdringlichkeit wie von gleichgültiger Banalität, in die Hülle eines rein menschlichen Erlebens und birgt dabei doch in sich das unergründliche Wunder des göttlichen Geheimnisses. Es stellt sich bei der leisesten Anknüpfung leicht und ungezwungen ein, und ist dabei doch im höchsten Maße und in tiefstem Sinne wirksam, d. h. es wandelt den Menschen in dem schlechthin durchgreifenden Sinne, der durch Tod und Auferstehung Christi vorgezeichnet ist: es tötet und macht lebendig. Die „Wüste” kehrt auf allen nur denkbaren Lebensgebieten wieder, ja sie ist eine Grunderfahrung des Menschenlebens überhaupt. Sie ist die eigentliche Erfahrung des Alltages, der der Gelehrte, der Staatsmann, der Künstler ebensowenig entrinnt wie der Fabrikarbeiter, die Hausfrau, der Kaufmann, das Schulkind. Wir brauchen das nicht auszuführen, weil das Leben selbst uns in diese Erfahrung hineinstellt. Aber gerade daß eine so allgemeine Grunderfahrung in einem lebendigen, eindeutigen und kraftvoll anschaulichen Bilde sich sammelt, begründet die durchschlagende, befreiende, ja erlösende Kraft des echten Meditationsbildes, wenn ein schleichender Zustand des Unbehagens sich zu einem kräftigen Schmerz und einem klaren Krankheitsbilde verdichtet, so hat eine Befreiungsstunde geschlagen. „Was in schwankender Erscheinung schwebt”, wird hier zu einem dauernden Gedanken verdichtet. Die befreiende Mission des Dichters liegt ja in solcher Gestaltungsfähigkeit, die zugleich die innersten Tiefen des Lebens enthüllt. Mit der Herausstellung eines Urtatbestandes beginnt die erlösende Wirkung aller wahren Bildmeditation, die damit an die Grenze des geheimnisvollen Lebenssinnes führt, der sich „offenbaren” will und nur, wie auch die Geschichte der göttlichen Offenbarung zeigt, in einer echten Grundschau sich offenbaren kann. Gerade weil das Leben von allen Seiten auf dies Urbild hindrängt und darin sich zusammenballt, wirkt das echte Offenbarungsbild so stark auf den Menschen, daß es ihn unter Umständen bis ins Innerste erschüttern kann. Denn es „enthüllt” ja das Innerste des Menschen, seines Schicksals und seiner Schuld und führt ihn damit zu der Krisis, auf die der göttliche Wille hindrängt. Es „richtet” den Menschen und macht ihn aufnahmefähig und reif für die göttliche Urbotschaft der erlösenden Grundwandlung, die in Christus geschehen ist. Alle echten Urbilder, auch des Alten Testaments, gewinnen daher erst von Christi Tod und Auferstehung her ihren tiefsten Inhalt und ihre Erfüllung. Entscheidend wichtig ist, daß die Wüste ihre Grenzenlosigkeit offenbart. Die Tradition der Bibel und der Kirche hat mit der Wüstenwanderung die Zahl 40 verknüpft. Diese Zahl bedeutet nach ihrer einen Seite die Endlosigkeit: sie überschreitet die Grenze menschlicher Kraft. 40 Jahre übersteigen den Willensraum einer Generation, 40 Tage die Widerstandsdauer menschlichen Ausharrens. Die endlose Wüste wirft den Menschen in die Ohnmacht zurück und liefert ihn der Willkür der Mächte aus. Der Hunger und der Durst, das Grauen vor den Dämonen und die Hoffnungslosigkeit gehören zur Wüste. So zwingt sie den Menschen, alle Hoffnung auf eine höhere, schlechthin wunderbare Wirklichkeit zu richten. Und darin liegt ihr Geheimnis, daß sie diese Hoffnung über alles Bitten und Verstehen erfüllt, gerade bei dem Menschen erfüllt, der sich ihr ganz ausgeliefert weiß. Dies Geheimnis erklären oder errechnen oder gar herbeizwingen zu wollen, wäre vermessen. Menschen, die 40 Tage fasten „wollten”, sind immer daran zuschanden geworden. Dem Menschen aber, der gegen seinen Willen der hoffnungslosen Endlosigkeit hülflos ausgeliefert wird, gehen erstaunliche Zusammenhänge und Wirklichkeiten auf. Unter dieser Erfahrung wandelt die Zahl 40 ihren Charakter. Die Kirche hat der 40tägigen Fastenzeit die 40tägige Freudenzeit polar gegenübergestellt, auch eine Wüstenwanderung, die nun aber geöffnet ist der verheißenen Vollendung (die Erscheinungen Christi im Jüngerkreise, die mit der Himmelfahrt abschließen). So wird die Zahl 40 unter dieser wunderbaren Wandlung zur Zahl der Vollendung. In der für den irdischen Raum hoffnungslosen Endlosigkeit offenbart sich die Formkraft einer neuen Welt, die in der Zahl 40 ebenso schlummert wie die alle irdische Hoffnung zerstörende Endlosigkeit. Zwar für den Griechen war das Endlose das „Apeiron” und damit das Formlose. Wie er das Geheimnis der Wüste nicht kannte, so haftete auch sein Lebensgefühl, seine Kunst, sein Staatsleben, ja selbst seine Mathematik am geformten Endlichen. Erst die Neuzeit hat diese Grenze, die der Orientale nicht kannte, wieder gesprengt. Das infinitesimale Denken hat zwar zunächst in die Wüste geführt, steht aber heute in der Wendung zu neuer Formkraft. Wir würden heute umgekehrt sagen: alle wesentliche Form entspringt aus dem Unbegrenzten. Selbst demjenigen, dem diese Betrachtungen völlig abwegig zu sein scheinen, offenbart die Erfahrung der Grenzenlosigkeit der Wüste Hintergründe, die dem von der Endlichkeit des Lebens Gefangenen völlig unzugänglich sind. Die Wüste enthüllt dem Menschen seine wahre Lage. Sie wirft ihn nicht nur auf sich selbst zurück, sondern stellt ihn vor Gott. Sie zwingt ihm unmittelbar die Grunderfahrung aller Frömmigkeit aus: daß Gott allein mächtig ist. Damit führt sie ihn erlösend zurück in die Grundsituation seiner Geschöpflichkeit, die er im eigenmächtigen Leben verloren hatte. Das ist ein sehr schmerzlicher Prozeß, der nicht nur vom Grauen des Todes umwittert ist, sondern alle Dämonen der Hölle, die sich in ihm festgesetzt haben, freiläßt. In der Einsamkeit der Wüste durchleidet der Mensch alle Stadien des Kampfes gegen die Tiefenmächte seiner irdischen Natur und gegen seine sich gegen Gott auflehnende Eigenmächtigkeit. Was der heilige Antonius durchlitten hat, ist das Schicksal aller wirklichen Wüstenwanderer. Die Versuchungen der Wüste, die das Volk des Alten Bundes erlebt hat, die Rückschau auf die Fleischtöpfe Ägyptens, der Hunger und der Durst, das Bitterwasser, die giftigen Schlangen, die Anfechtungen durch feindselige Wüstenstämme, das Hadern mit dem Schicksal und den verantwortlichen Führern, die Rückkehr zu den alten Göttern und der aufrührerische Ungehorsam gegen Gott, tragen in sich eine unheimliche Gleichnishaftigkeit für alle Zeiten und Situationen. In der Endlosigkeit der Wüste scheint der Mensch noch einmal alle Versuchungen und alle Schrecken seiner „Freiheit” durchleben zu sollen, sodaß alle Dämonen freie Entfaltungsmöglichkeit haben. Das Wüstendasein des modernen Massenlebens mit seinen unheimlichen versucherischen Mächten gewinnt von diesem Anschauungsbilde her erst seine volle Enthüllung. Es bedarf keiner Betonung, daß hier furchtbare Gefahren für den Wüstenwanderer liegen. Die Wüste wirft den Menschen in den Kampf um Leben und Tod. Wird ihm hier nicht Hilfe zuteil, so ist er den Mächten hoffnungslos ausgeliefert. Darum kann das Bild der Wüstenwanderung nur innerhalb der Kirche durchmeditiert werden. Die Kirche hat wohl gewußt, auf welchen gefährlichen Weg sie ihre Täuflinge führte, wenn sie diese die 40tägige Wüstenwanderung durchleben ließ. Sie wußte freilich auch, daß der Weg zur Osternacht den entscheidenden Kampf zwischen Leben und Tod in sich birgt. Darum hat sie den Täufling an der Hand genommen und ihm alle Hilfen zuteil werden lassen, die ihr von Gott geschenkt worden sind, die Botschaft vom Leben, das Fasten, das Gebet und den Exorzismus. Sie hat gewußt, daß ohne den „mitwandernden Fels” Christus die Wüste zur Hölle wird. Der innere Zustand des modernen Massendaseins ohne die Kirche ist Warnung genug. Gerade in diesen Hilfen offenbart sich nun der tiefere Sinn der Wüstenwanderung. Sie führt den Menschen bis an den Punkt, an dem Gott allein noch helfen kann. Sie läßt ihn den Weg des Todes gehen, damit er das ewige Leben gewinne. An ihrem Ziele liegt das „gelobte Land”, das seine Pforten dem öffnet, der den Weg gehorsam und im Glauben an die Verheißung Christi zu Ende gegangen ist. Darum hat die Kirche in der Wüstenwanderung den heiligen Weg Christi und seiner Gläubigen gesehen, auf dem sich die wunderbare Wandlung einer Todeswelt in die Welt ewigen Lebens vollzieht. Auf diesen Weg wird jeder geführt, der das Tor der Kirche sucht; dieser Weg bleibt aber auch der Weg der Gläubigen, solange sie in der Wüste dieser Welt stehen, bis ihnen durch Gottes Gnade das Tor der ewigen Vollendung geöffnet wird. Wir verstehen, welche hohe Bedeutung dies Urbild der Wüstenwanderung für den Weg der Kirche in ihrer ganzen Geschichte gehabt hat. Es ist zu einem Grundbilde der Kirche und ihrer Gläubigen geworden. Es scheint, daß in diesem Bilde eine wesentliche Erinnerung ganz an den Rand geraten ist, die in dem geschichtlichen Bilde des Alten Testaments im Mittelpunkt steht: die Erinnerung an die Gesetzgebung auf dem Sinai. Indessen offenbart sich an mehr als einem Punkte (etwa 1. Kor. 10, im Hebräerbrief und im Johannes-Evangelium), daß der ganze Wüstenweg unter dem Schatten des heiligen Gesetzesberges liegt. Die Erinnerung an den Ungehorsam des alttestamentlichen Bundesvolkes und an den Gehorsam Christi auf seinem Wüstenzuge, der alles beherrschende Gegensatz zwischen dem Gesetz des alten Bundes und dem „Gesetz des Berges”, stehen unverkennbar über dem Ganzen. Schließt sich doch auch an Christi Wüstenweg (Matth. 4) unmittelbar das „Gesetz des Berges” (Matth. 5) an. Im alten wie im neuen Bunde wird es deutlich, daß in der Wüste das Grundgesetz des Lebens offenbart worden ist, sei es zum Verderben, sei es zum Heile. In der Kirche Christi ist der Weg der Wüste, der Kreuzesweg Christi, der Weg des Lebens geworden: sterben wir mit, so werden wir auch mit leben. Es ist die Lebensordnung der Kirche Christi, daß sie in dieser Welt in heiligem Gehorsam durch die Wüste zu gehen hat, um der Verheißung des gelobten Landes teilhaftig zu werden. Auf diesem Wege liegt wohl ihre Not, auf diesem Wege aber findet sie auch die nie versiegenden Quellen. Sie glaubt an das Verheißungswort Gottes: du füllest die Wüsten mit ewiger Hoffnung. Das Gottesjahr 1938, S. 51-57 © Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938 |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-02-24 |