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von Hans Erich Stier |
Niemals vorher und nachher hat der deutsche Name im Bereich der stammverwandten Völker des Abendlandes (und noch über ihn hinaus) einen so hellen Klang gehabt, wie in den Zeiten des christlich-germanischen Mittelalters, vornehmlich im 10. - 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Es sind die gleichen Jahrhunderte, in denen die christliche Kirche auf der Höhe ihres Ansehens stand, als die Welt (um mit den Worten eines damaligen Chronisten zu reden,) „ihre alten Lumpen abschüttelte und das blendend weiße Kleid der Kirchen anzulegen begann”. Das deutsche Volk, dessen Herrscher damals als Schirmherr der gesamten Christenheit weithin gebieten, sieht den Sinn seiner politischen Existenz in der Idee des „Reiches”. Nicht nur der Herrschaftsbereich der Kaiser, das Imperium, wird als „rike”, als Reich bezeichnet, sondern vor allem auch der deutsche Staat im engeren Sinne, das deutsche Königreich, das Regnum. Das Überraschendste aber ist der Umstand, daß dieses Reich nicht unter dem Namen „Deutsches Reich” offiziell in Erscheinung tritt, sondern in erster Linier als „Römisches Reich”. Erst im ausgehenden Mittelalter ist der Begriff des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation” geprägt worden, der heute für gewöhnlich recht mißverständlich auch für die Blütezeit gebraucht wird. Daß der merkwürdige Sprachgebrauch nicht in politischen Erwägungen begründet liegen kann, bedarf keines besondern Nachweises, zumal wenn man sich vor Augen hält, daß das Reich unserer mittelalterlichen Kaiser ein betont nationalistisch-deutsches Gepräge getragen hat, das gewiß in der Bezeichnung für dieses Reich am ehesten hätte zum Ausdruck kommen müssen. Wenn wir den Ursprung dieses ebenso eigenartigen wie tiefsinnigen Brauches erkennen wollen, sehen wir uns auf die Heilige Schrift geführt. In der gewaltigen Vision des Buches Daniel (besonders in Kap. 2 und 7) erscheint das Bild der Weltgeschichte in der Abfolge von vier großen Weltmonarchien. In der Offenbarung Johannis ist die letzte von diesen mit dem weltumspannenden römischen Imperium gleichgesetzt. Von hier aus ist die Abfolge der vier Weltreiche, des babylonisch-chaldäischen, des medisch-persischen, des griechisch-mazedonischen und des römischen, zum Geschichtsbilde der Christenheit geworden. Die Schauer eschatologischer Erwartung umwittern das Römische Reich als das letzte, das diese Welt erleben soll. An seinem Ende steht das Erscheinen des Antichrist und das Gericht Gottes, der Jüngste Tag. Und so bedeuten die Einschnitte, die die profane Historie mit den Jahren 476, 500, 962 unserer Zeitrechnung macht, als an die Stelle der Römerherrschaft im Abendlande nacheinander germanische, fränkische, deutsche Reichsbildungen treten, für jenes mittelalterlich-christliche Geschichtsbild so gut wie gar nichts. In jedem dieser Jahre ist lediglich die römische Reichsherrlichkeit auf einen neuen Träger übergegangen; an dem Wesen dieses Reiches aber hat sich nichts geändert, es ist das römische, d. h. das Endreich geblieben. Es waren keineswegs nur kirchliche Kreise, die diese Auffassung teilten. Die vielumstrittene, von den Zeitgenossen einstimmig gebilligte Italienpolitik unserer deutsche Kaiser im Mittelalter erklärt sich letzten Endes aus der Überzeugung, daß die deutschen Herrscher als legitime Nachfolger der römischen Cäsaren auch deren Pflichten zu übernehmen hatten. Zu diesen Pflichten gehörte seit den Tagen Konstantins d. Gr. vor allem die Beschirmung der christlichen Kirche. Wie sehr sich die deutschen Kaiser gerade dieser Aufgabe angenommen haben, erhellt allein schon aus der nachdrücklichen Förderung, die sie - und namentlich die mächtigsten unter ihnen, wie etwa Heinrich III. - der kluniazensischen Erneuerungsbewegung angedeihen ließen. Hierher gehört weiter die rege Anteilnahme des Kaisertums an den Kreuzzügen. Während sich das innere Leben der abendländischen Menschheit immer stärker vom Christentum distanzierte, gingen auch in der äußeren Entwicklung tiefgreifende Veränderungen vor sich. Das Europäertum dehnte seinen Herrschaftsbereich über die ganze Erde aus; und Spanier, Franzosen, Engländer gründeten Welt„reiche”, neben denen der Glanz des mittelalterlich-deutschen Reiches zu verblassen schien. Die deutschen Reichshoffnungen hatten sich seit dem Sturze der Staufer in die Sage vom Weltkaiser „Barbarossa” gerettet, der im Kyffhäuserberge seiner Wiederkehr harrte. Aber das war nicht alles. Von Zeit zu Zeit brach sich doch in Deutschland das ursprüngliche, echte Reichsempfinden Bahn. Die Türkenkriege, die der Vertreibung des alten mohammedanischen Erzfeindes aus Europa und der Befreiung des neuen Rom, Konstantinopels, von der widergöttlichen Herrschaft des Halbmondes galten, sind im deutschen Volke viel populärer geworden als die gleichzeitigen Kriege gegen den französischen Bedränger Ludwig XIV. Mit dem offenen Kampfe der Französischen Revolution gegen das Christentum erreicht die anti-christliche - und damit zugleich die antideutsche - Flut ihren Höhepunkt. Als Napoleon, der Revolution größter Sohn und unerbittlicher Vollstrecker, mit brutaler Drohung 1806 die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erzwang, hatte das, wie gar mancher Zeitgenosse deutlich empfand, über die rein politische Sphäre hinaus sinnbildliche Bedeutung. Der Abfall der Christenheit von sich selbst schien besiegelt; westeuropäische „Aufklärung” und autonome Diesseitigkeit triumphierten über deutsche Seele und theonome Ewigkeitssehnsucht. Aber fast unmittelbar darauf verebbte die Hochflut. Auf die tiefste Erniedrigung des Deutschtums folgten die Jahre 1813-15, 1864-66, 1870-71. In der Versuchungsgeschichte (Matth. 4, 8-10) ist die Herrschaft über die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit ein Geschenk, mit dem der Teufel den letzten und größten Ansturm auf die Seele Jesu versucht; und man muß schon Dostojewskis Interpretation dieses Angebots in seinem „Großinquisitor” heranziehen, um zu ermessen, bis zu welchen Tiefen hier vorgestoßen wird. Das Begehren um Weltherrschaft um ihrer selbst willen ist Abfall von Gott, ist teuflisch. Jesus spricht gelegentlich (Lukas 11, 18) von eine „Reiche” (basileia) des Teufels. Allen jüdisch-messianischen Erwartungen hält er das Wort entgegen, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist. So verkündet er denn das „Reich Gottes”, um dessen Kommen ein jeglicher in seinem täglichen Gebet bitten soll - und darf. In dieser Predigt Jesu liegt die Bestätigung dafür, daß mit seinem Erscheinen auf Erden ein totaler Wandel eingetreten ist. Seitdem ist „Reich” nur noch möglich als Gleichnis für „Reich Gottes”. Kennt das Alte Testament viele Reiche - deren Herrscher von Gott , ob sie nun von ihm wissen oder nicht, zur Durchführung seiner Pläne mit den Menschen aufgerufen werden und die das göttliche Strafgericht trifft, sobald sie sich dem göttlichen Handeln in eitler Verblendung widersetzen -, so gibt es seit Jesu Wirken im Grunde nur ein „Reich”, in dem sich die Erwartung des einen Gottesreiches gleichnishaft symbolisiert. Die Überzeugung, daß dem wirklich so ist, spricht sich aus in dem vom profanen Standpunkt aus höchst seltsam und einfältig erscheinenden Verhaltens der Generationen, die den Zusammenbruch des Römerreiches, des Karolingerreiches und ihrer Nachfolger hinnahmen und trotzdem in der Errichtung neuer „Reiche” nur das Weiterleben des einen „römischen” Reiches sahen und sehen konnten. Denn „Reich” war jetzt etwas anderes als nur Bereich der politischen Herrschgewalt eines Fürsten oder eines Volkes. Die Ewigkeitsbezogenheit war sein besonderes Charaktermerkmal geworden. Damit war es rein rationaler Begreifbarkeit entzogen und zum „Wagnis des Glaubens” geworden für die, die sich als seine Träger fühlen durften. Als göttliche Sendung erscheint das Reich den Germanen der Völkerwanderungszeit, und die befähigtesten unter ihnen, die Franken, empfinden ihre Taten als „Gesta Dei per Francos”, als Taten, die in Wirklichkeit Gott durch den Arm des von ihm erwählten fränkischen Volkes verrichtete. Es ist das Hochgefühl und zugleich die stolze Demut, die dann die Deutschen in den Hoch-Zeiten ihrer Geschichte beseelten, seit sie sich von den Kaisern aus sächsischem Hause zum Reichsvolk schlechthin unter den Nationen der Christenheit erhoben sahen. Und so haben sie das Reich als „Heiliges Reich” empfunden. „Reich” ist in Wahrheit eine Aufgabe. Als seine wesentliche Obliegenheit erscheint die Gerechtigkeit, die Wahrung des Rechts und - was untrennbar davon ist - die Sicherung des Friedens innerhalb der Christenheit. Die Majestät dieses Reiches ist geistiger Art; sie entspringt der Autorität, die ihm auf Grund der göttlichen Erwählung eignet, - nicht den Mitteln rein weltlicher Gewalt und Tyrannei. Als ein Element der Ordnung, innerhalb deren dem heilsgeschichtlichen Wirken Gottes an den Menschen eine Stätte bereitet ist, will es den Guten ein Schirm und ein festes Bollwerk gegen den dauernden Ansturm des Bösen sein. Wie die Kirche darf auch das Reich - gerade aus dem Wissen um seine Vorläufigkeit heraus - den Anspruch auf Einzigartigkeit erheben, sofern es sich an der ewigen Majestät Gottes und seines in Jesus Christus offenbarten Willens und Wirkens ausrichtet. Daß diese Einzigartigkeit auf einer ganz anderen Ebene liegt als das Streben der Spanier, Franzosen und Engländer nach der Universalmonarchie im 16. - 18. Jahrhundert, bedarf keines Wortes. Der Diktatfriede von Versailles 1919 hat endlich auch dem blödesten Auge klar werden lassen, daß eine rein diesseitige Politik, deren Leitgedanken fast in allem und jedem den Geboten Jesu bewußt zuwiderlaufen, dem Übel auf Erden nicht steuert, sondern es ins Endlose vermehrt. Wenn wir sehen, daß das deutsche Reich der christlichen Zeit bei aller Universalität national in sich gefestigter war als das Reich des 19. Jahrhunderts, in dem das Wort „deutsch” in die Gefahr geriet, sich in eine hohle Phrase zu verflüchtigen, so entspricht das dem Bilde, das die gleichzeitige Kultur bietet: das Mittelalter hatte das, was dem 19. Jahrhundert trotz (oder wegen?) seines lauten und oft lärmenden Suchens danach versagt geblieben ist: eine wahrhaft deutsche Kultur. Wer den Typus des deutschen Menschen sich vergegenwärtigen will, wird unwillkürlich an Schöpfungen des Hochmittelalters, etwa den Bamberger Reiter, denken. Somit wird klar, daß jene christliche Ewigkeitsausrichtung des Reiches der Vollendung der nationalen Eigenart seiner Träger so wenig wie der seiner Pflegebefohlenen entgegensteht. Wer des Glaubens lebt, daß auch heute noch nur in deutschen Herzen dem „Reiche” eine Stätte bereitet ist, und wer in der Aufgabe der Gestaltung des Reiches den besonderen Auftrag Gottes an das deutsche Volk erkennt, wird den sicheren Weg zur Erfüllung dieser Sendung in dem Herrenworte angegeben finden: „Trachtet als erstes nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch solches alles zufallen”. Das Gottesjahr 1937, S. 121-126 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |