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von Otto Heinz v. d. Gablentz |
Die Geschichte der Menschheit ist keine gradlinige Entwicklung zu einem Ziel hin. Weder in dem moralischen Sinn, daß sie sich der Verwirklichung reinen Menschentums immer mehr näherte, noch in dem technischen Sinn der immer vollkommeneren Herrschaft über die Natur. Edle und gemeine, opferfähige und Ich-besessene Menschen hat es in allen Zeiten und Völkern gegeben. Die äußere Beherrschung der Natur durch unsere Technik findet allerdings nirgends ihresgleichen in der Geschichte; aber verloren haben wir die Intensität der Verbindung zu Tier und Pflanze, Landschaft und Klima, die wir bei Naturvölkern in Resten beobachten, und die uns in der Frühzeit der Geschichte ein Rätsel nach dem andern aufgibt. Und die Herrschaft über die eigene Natur, die geistige Meisterung der Triebe des Körpers und der Seele war kaum je in der Geschichte so beschämend schwach wie in der Gegenwart. Die Geschichte der Menschheit ist aber auch kein Kreislauf von Jugend, Reife und Alter, auch keine Summe solcher Kreisläufe. Die einzelnen Kulturkreise berühren sich nicht nur, sondern wir erfahren heute, daß sie gleichzeitig und gleichräumig in ungeahnter Weise sind. Nicht nur, daß allein schon die wirtschaftliche Entwicklung die europäische Welt in eine unentrinnbare Schicksalsgemeinschaft mit der ostasiatischen und der unentwickelten tropischen Welt gestellt hat; auch längst verschollene oder abseitige Kulturen erweisen eine unheimlich lebendige Kraft, sei es die Kultur der nordischen Bronzezeit, sei es die schlummernde Überlieferung der Azteken, sei es die Sexualmagie afrikanischer oder polynesischer Kulte. Und doch ist es richtig: Die Geschichte der Menschheit hat ein Ziel. Und doch ist es richtig: Die Geschichte der Menschheit hat eine Mitte. Aber das Ziel liegt außer ihr. Und die Mitte ist etwas ganz anderes als die natürliche Reife der Pflanze oder des Tieres. Die Mitte der menschlichen Geschichte ist Jesus Christus. Wir können die großartige Vereinfachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht mehr einfach übernehmen, nach der die Antike der Weg auf Christus zu ist, und Mittelalter und Neuzeit die Erfüllung aller Lebensgebiete mit christlichen Impulsen zum Inhalt haben. Denn das humanistische Weltbild, das die alte Geschichte auf 2000 Jahre und auf das Mittelmeerbecken beschränkte, ist ebenso zerbrochen wie das abendländische, das nur die christlichen Völker, ja im Grunde nur die Völker des lateinischen Christentums der eigentlichen Geschichte der letzten 1900 Jahre zurechnete. Wir wissen heute von den raffinierten Kulturen von Ur und von Kreta, wir ahnen etwas von der tiefen und bewußten Naturverbundenheit der nordischen Völker - und alle diese Kräfte gingen nicht in die Kultursynthese des römischen Reiches ein, die ägyptische und syrische, griechische und italische Elemente verschmolz und auf deren Grundlage sich das Christentum bildete. Wir kennen heute die Eigengesetzlichkeit der indischen, der chinesisch-japanischen, der persisch-mittelasiatischen, der byzantinisch-russischen, der altafrikanischen und der altamerikanischen Entwicklung. Alle sind sie bedeutsam für das, was heute werden will. Aber indem alle diese Kräfte in der Gegenwart aufeinander stoßen, wird erst deutlich, in welchem Sinne Jesus Christus im Mittelpunkt der Geschichte steht. Die Situation der Menschheit wird heute am deutlichsten, am fühlbarsten in der Situation der Weltwirtschaft. Die einfachste Kennzeichnung der Weltwirtschaftskrisis ist die beste: Verhungern bei vollen Scheunen! Die Technik hat eine ungeahnt reiche Befriedigung aller materiellen Bedürfnisse möglich gemacht, aber die Organisation der Warenverteilung, d. h. der Einkommensbildung, und die Organisation der Vermögensverteilung, d. h. des Kreditwesens, sind nicht mitgekommen. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Arbeitsteilung überkünstlich entwickelt worden ist, und zwar gilt das sowohl für die nationale wie für die internationale Arbeitsteilung. Die Entwicklung ging zu Monokulturen: hier reine Industriegebiete, dort reine Agrargebiete, ja noch mehr: hier reine Gebiete etwa der Eisenindustrie, dort reine Weizen- oder Baumwoll- oder Kaffeegebiete. Das mochte für den Augenblick die größte Rentabilität gewähren. Aber es mußte zu Katastrophen kommen, sobald sich die technischen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser für einen Augenblick berechneten Arbeitsteilung verschoben. Das trat ein, sobald man dieselben Waren auch an anderer Stelle ebenso billig herstellen konnte, oder sobald die politische Macht diese Entwicklung als ungesund ansah und absichtlich Agrarländer industrialisierte oder in überentwickelten Industrieländern die Landwirtschaft förderte. Dieser Eingriff der politischen Gewalten ist aber keine „künstliche” Hemmung eines gut funktionierenden Wirtschaftsautomatismus, sondern sie setzte in dem Augenblick ein, in dem dieser automatische Ablauf zum Stocken kam. Er mußte aber zum Stocken kommen, als es weder nach außen, noch nach innen mehr eine Expansion gab. Die Expansion nach außen hörte auf, als Rußland, China und Indien sich absperrten und Südamerika, Afrika und Australien anfingen, sich zu konsolidieren. Im Innern aber wurden durch Revolution der Agrartechnik, des Handels und z. T. durch Inflation die alten Käuferschichten des Mittelstandes und des Bauerntums zersetzt, und es gelang nicht, im Rahmen der hergebrachten gesellschaftlichen Schichtung die Kaufkraft des Proletariats entsprechend zu heben. In welchem Zustand aber ist die Staatenwelt? Die Reiche sind zerstört, die in Überlieferung des west- und oströmischen Kaiserreichs eine übergreifende Macht über verschiedene Völker ausübten, deren Führern es noch - wenn auch noch so schwach - bewußt gewesen war, daß sie Aufgaben hatten, die über den Bereich des eigenen Staates räumlich und geistig hinausgingen. Nur das späteste dieser Reiche ist geblieben, England, das räumlich größte, aber das am wenigsten gleichmäßig gebildete, das auch die Überlieferung des Imperiums nur in einer humanistischen Abschwächung empfangen hat, und in dem sich nur wenige Einsame bemühen, die Aufgabe ganz neu zu erfassen. Und eine Ausnahme droht am andern Rande der europäischen Welt: Rußland. Im übrigen sind die Staaten, große und kleine, rein auf der Nation aufgebaut; in ihrer Selbstentfaltung sehen sie den einzigen Sinn. Unklar, vielleicht mit schlechten Gründen, aber mit untrüglichem Gefühl, lehnen sie damit den Wirtschaftsimperialismus ab, sie wollen los von unechten Verbindungen, sie wollen zurück zu harmonischen ausgewogenen Verhältnissen im Innern. Es ist eine tiefe Besinnung auf die eigene Natur, auf ihre Würde. Es wird auch gespürt, daß diese Natur pfleglich behandelt werden muß, ein anvertrautes Stück Schöpfung ist. Und in der Theorie ist auch die Achtung vor dem andern Volk da, das auf seinem Boden, mit seinen Menschen ebenso verfahren soll. Aber die Grenzen überschneiden sich; nach denselben Räumen, nach denselben Naturschätzen, nach denselben Menschengruppen greifen mehrere Nationalstaaten. Und mit Recht hat jeder das Bewußtsein, das gerade er hier Aufgaben hat, von denen er sich nicht abdrängen lassen darf. So muß Feindschaft und Krieg entstehen, weil es keine Selbstgenügsamkeit der Völker mehr geben kann und weil ihnen die Sprache fehlt, in der sie ausdrücken könnten, daß diese sich überschneidenden Aufgaben gemeinsam sind. Es fehlt dieser Menschheit von heute jedes geistige Band. Die organisierte christliche Kirche ist lebendig im Einzelnen, auch dann und wann in einzelnen Staatsmännern, aber nicht in den Völkern. Der Humanismus, die bewußte Selbstdisziplin der geistig und sittlich kultivierten Persönlichkeit, ist noch immer eine weit stärkere Macht, als die meisten ahnen und die Demagogen wahr haben wollen. Daß auch nur die organisatorische Verbindung zwischen den Völkern und Staaten noch notdürftig funktioniert, das danken wir diesen wenigen Menschen, die sich über alle Mißverständnisse hin die Hand reichen können, ohne darum ihr eigenes Volk würdelos zu verleugnen. Aber auch sie konnten nur dann und wann das Ärgste verhindern; sie sind zu schwach, zu gestalten. Der Staat revoltiert gegen die Wirtschaft, um die Natur wieder in ihr Recht zu setzen. Aber der Geist, der ihm den Weg zeigen müßte, die Natur zu lenken und zu wandeln, dieser Geist versagt. Und so bricht die Natur aus. Und sie triumphiert in den Trieben des Einzelmenschen, in den Urtrieben des Volkes, in der Macht des Landes, die den Menschen in ihren Bann zieht. In dem dreifachen Materialismus der Wirtschaft, des Blutes, des Raumes. Materialismus der Wirtschaft: das ist die Drohung Rußlands, wo eine strenge und großartige Erziehung des Menschen gerade zu dem Ziel führen soll, ihn der eigentlich menschlichen Kräfte zu berauben, ihn zu einem nichts als gesund-vitalen Wesen zu machen, das harmonisch seine Bedürfnisse befriedigt. Materialismus des Blutes: das ist die Gefahr für jeden faschistischen Staat, wenn seine Führer nicht ganz tief in stärkeren Bindungen stehen, als die der Natur sind. Materialismus des Raumes: das ist die Gefahr jenes Imperialismus, dem sich ein Großstaat heute gar nicht entziehen kann, wenn er ihn nicht gemeinsam mit den andern überwindet. Es gibt nur einen Ausweg: diese Natur, die groß und gottgeschenkt ist, zu durchdringen mit einer Kraft, die sie wandelt. Das bedeutet aber für die Menschheit, daß sie sich ein Ziel setzt, jenseits ihrer selber. Auch der feinste und edelste Humanismus hat für den Einzelnen wie für die Menschheit nur das Ziel: Selbstvervollkommnung. Dagegen steht das andere Ziel: Dienst an der Welt; Dienst, in dem man sein Leben verlieren muß, um es zu finden. Für den einzelnen Menschen konnte diese Aufgabe noch in ein humanistisches System eingebaut werden, als Dienst an der Menschheit (obwohl jeder Mensch, der es damit ernst nimmt, schon Züge an sich trägt, die ihn als Glied einer auf anderer Ebene begründeten Gemeinschaft erkennen lassen). Für die Menschheit aber setzt eine solche Aufgabe - die zunächst heißen könnte, Gestaltung der Erde mit allen ihren Kräften und Lebewesen zu dem Bild, für das sie geschaffen ist - eine völlig neue Anschauung von ihr selber voraus. Und eine Gewißheit dieses neuen Bildes, die man nicht dadurch erringen kann, daß man es für notwendig erklärt. Diese Gewißheit aber liegt in der immer und gegenwärtig wirkenden Kraft Christi. Daß auf Erden einmal vor 1900 Jahren ein Leben gelebt wurde, das menschlich war und mehr als menschlich, das jene menschliche Vervollkommnung in der Selbsthingabe unbedingt verwirklichte, das ist allerdings eine Voraussetzung dieser Gewißheit. Aber es ist nur ihre eine Seite. Das Entscheidende ist: Diese Kraft hat die Natur gewandelt, nicht ihre Gesetze über den Haufen geworfen, sondern ihre Elemente neu ausgerichtet. Und sie ist lebendig und wird täglich erfahren in der Erhörung des Gebets, in der Wesensschau des befriedeten und gereinigten Geistes, im Empfang ihrer leibhaftigen Gaben als Sakrament. Und das wird auch gelten für jene alten Kulturen, die heute aus dem Schutt des Bodens und dem Schutt der Überlieferung wieder auftauchen, nicht so sehr als Objekte wissenschaftlichen Interesses, sondern als magisch bannende Kräfte. Alle fügen sich neu um die Mitte der Geschichte: Christus. Alle richten sich neu aus nach dem Ziel der Geschichte: der neuen Erde. Wir wissen nicht, welche Formen dieses gemeinsame Wirken annehmen wird. Wir wissen nicht, ob es eine „Christianisierung” im Sinne der bisherigen kirchlichen Mission einschließen wird. Die Berührung mit Indien vor allem wird uns hier noch ganz neue Probleme erschließen. (Vielleicht ist die wichtigste jener Begegnungen über die Völker hinweg, von denen vorhin die Rede war, die Aussprache zwischen dem britischen Vizekönig Lord Irwin, einem ernsten Christen, der um die Katholizität der Kirche bemüht ist, und Gandhi gewesen.) Aber wir wissen: Natur ist verwandelt, seit Jesus Christus auf der Erde war. Sich in diese verwandelte Natur hineinstellen, das heißt Geschichte gestalten. Heute erfahren die Völker ein schweres Gericht. Dieses Gericht ernst nehmen, heißt: verstehen, daß es Gnade ist. Wenn aber die Glieder dieser Gnade inne werden, dann gehorchen sie dem Haupt. Dann wird nicht „christliche Kultur” geschaffen, sondern dann lebt Christus in den Völkern und schafft und herrscht durch sie hindurch. Das Gottesjahr 1934, S. 113-119 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-11-11 |