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1934
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Der Herr der Völkerwelt
von Ludwig Heitmann

LeerIn dem nächtlichen Gesicht Daniels von den vier Weltreichen erscheint nach dem Untergange auch des letzten und mächtigsten dieser Reiche, das „alle Lande fressen, zertreten und zermalmen wird”, einer in des Himmels Wolken „wie eines Menschen Sohn”, dem Gewalt, Ehre und Reich gegeben wird, daß ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen müssen.

LeerFür die christliche Gemeinde ist von ihren Anfängen her dies Bild der erhabene Hintergrund der Erscheinung Christi gewesen. Wir Menschen eines historischen und zeitgebundenen Denkens haben mit unserer „Leben-Jesu-Betrachtung” diesen Hintergrund fast ganz aus dem Auge verloren. Selbst die christliche Kunst hat sich im Laufe der Jahrtausende immer mehr in die Tatsachen seines Heilandslebens auf dieser Erde vertieft, den „Christus Pantokrator” aber, der in den unvergänglichen Mosaiken besonders der alten byzantinischen Kirche die Gotteshäuser beherrscht, versinken lassen. Ein Blick in die Evangelien freilich kann uns davon überzeugen, daß schon die älteste Gemeinde das Erdenleben Christi niemals hintergrundlos gesehen hat. Am gewaltigsten ist dieser Hintergrund im ersten Evangelium gezeichnet. Matthäus zeigt die große Linie der israelitischen Volksgeschichte, aus der der Heilbringer erwachsen ist, reißt dann aber sofort den großen Völkerhintergrund auf in jener heiligen Geschichte von den Weisen aus dem Morgenlande, die bis heute das unvergängliche Anschauungsbild für den Heiland der Völker geblieben ist; und das Evangelium schließt ab mit dem großen Missionsbefehl bis an das Ende der Tage: „Gehet hin und lehret alle Völker!”

LeerDas Evangelium ist von seinen Ursprüngen her eine Botschaft an die Völker. Der Auftrag des großen Apostels ist von der Berufung an ein Auftrag „an die Heiden”. Die „Geschichte der Apostel” ist von der Pfingstschilderung an eine einzige Geschichte der Botschaft an die Völker. Christus selber reißt die festgeschlossenen Tore seines Volkes sofort auf:

Leer„Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen.” Wenn das letzte Wort Christi über die Welt gesprochen werden wird, dann werden vor ihm „alle Völker” versammelt werden.

LeerDieser Grundzug der Botschaft ist nicht damit erklärt, daß man sich auf den kosmopolitischen Zug der damaligen Weltentwicklung beruft. Es ist gewiß richtig, daß die äußere Voraussetzung für den Zug des Evangeliums durch die Welt das im Römerreich vorliegende Stadium der Weltreichentwicklung war. Der Versuchung jedoch, die durch politische Weltweite und technischen Weltverkehr gegebenen Möglichkeiten auszunutzen, hat jedenfalls Christus selber bewußt widerstanden. „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel.” Auch wird man Pauli Missionseifer nicht gerecht, wenn man ihn mit der kosmopolitischen Einstellung des Diasporajuden in Verbindung bringt.

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LeerWir Menschen einer auf Welteroberung bedachten Epoche verwechseln einen nur zu weltlichen propagandistischen Eifer gern mit einem religiösen Auftrag. Dieser hat ganz andere Wurzeln als die anspornenden Möglichkeiten eines weltumspannenden Nachrichtendienstes. Das wird sofort deutlich, wenn man die geheimnisvolle Innenseite des Auftrages an die Völkerwelt ins Auge faßt. Dieser hat nämlich keinen geringeren Sinn als den: Die weitausgreifende und ins Grauenvoll-große wuchernde Völkerentwicklung aufzuheben und zurückzuführen - auf das eine Volk, das Anfang und Ende aller Heilsgedanken Gottes ist. Das „auserwählte Volk” im Sinne der neutestamentlichen Verheißung ist das Gericht über die Völkerwelt, die im Feuerbrande untergehen soll, und zugleich die Erfüllung aller Völkergeschichte, die am Ende zu ihrem göttlichen Urgedanken zurückkehren soll: dem Volk Gottes.

LeerDenn es lebt allerdings noch eine letzte Erinnerung in aller kampfdurchtobten Völkergeschichte: „Er hat gemacht, daß von Einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen.” (Ap.-Gesch. 17, 26.) Aller imperialistische Eroberungsdrang, alle erdumspannenden Herrschaftsversuche haben hier ihre letzte Wurzel. Es ist ein letztes Wissen in der Welt, daß alles Gegeneinander der Völker, alle Verwirrung der Sprachen ein Abfall ist von dem ursprünglichen Sinn der Gottesschöpfung. In titanischer Auflehnung gegen dies im Tiefsten als sinnwidrig empfundene Schicksal wird immer wieder der Versuch unternommen, das Völkerchaos durch äußere Menschenmacht zu überwinden. Und immer sinken doch die kühnsten technischen Versuche der Feldherren, der Wirtschaftsführer, der Organisatoren und der Denker zurück in die Hoffnungslosigkeit. Wir erleben eben heute wieder ein Zerschellen aller menschlichen Versuche, die Mannigfaltigkeit der Völker durch ein äußeres System gewaltmäßiger Zusammenballung zu bezwingen. Der Imperator erweist sich zuletzt immer als das Widerspiel des Schöpfers, als der ohnmächtige Antichrist. Erst wenn man um diesen hoffnungslosen Hintergrund aller Völkergeschichte weiß, kann die Botschaft verstanden werden, daß Christus gekommen ist als „der Herr der Völkerwelt”, als der Erfüller aller Völkergeschichte. Der Erlöser der Welt geht nicht den Weg der Eroberer und der weltumspannenden Ordner. Ihm ist das Geheimnis der Neuschöpfung der Völker aus der göttlichen Lebensmacht gegeben. Er hat durch das Todesopfer Seines Lebens die Feindschaft unter den Völkern getötet und durch das Kreuz die widersprechenden Kräfte zu Einem neuen Leibe versöhnt, so daß nun in dem echten Volke Gottes, Seiner Gemeinde, die Sein Leib ist, eine neue Behausung im Geiste erwächst, in der die Sehnsucht der Völkerwelt erfüllt sein wird (Eph. 2).

LeerDarum ist der Sinn aller Mission nicht etwa die „Befriedung der Völkerwelt” im Sinne eines säkularen Friedenswillens - das Gericht über die Völkerwelt wird sich immer im blutigen Geschehen vollziehen - sondern der Ruf zum „Volke Gottes”, in dem alle Zäune abgebrochen sein werden. Darum kann etwa die Botschaft „für das dritte Reich” nur die Gerichtsbotschaft sein; die Botschaft Christi ist eindeutig auf ein „neues Volk” gerichtet, das in keiner irdischen Volksentwicklung je verwirklicht werden wird, das freilich in der echten Volksentwicklung sein irdisches Gleichnis sucht.

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LeerEben dies ist ein Zusammenhang, der uns in unsern Tagen wieder ganz lebendig wird. Der Herr der Völkerwelt ist immer zuerst und grundlegend der Herr jedes einzelnen Volkes. Wer nicht in der echten Volksverbundenheit der ersten Schöpfung bleibt, kann nicht echter Verkündiger des neuen Gottesvolks sein. Der Anknüpfungspunkt für die Botschaft von der zweiten Schöpfung bleibt die von Gott gesetzte erste Schöpfung, er kann niemals in einer dazwischen liegenden „übervölkischen” Konstruktion liegen. Darum bleibt Christus bewußt im Zusammenhang seines Volkes, darum gebietet er seinen Jüngern, nicht „auf der Heiden Straße” zu gehen, d. h. irgendwelchen Plänen nachzulaufen, die den gottgegebenen Zusammenhang überspringen. Darum hat sich auch der „Apostel der Heiden” niemals auf die weltumspannende Macht des Römerstaats berufen, um seinen Auftrag zu begründen; vielmehr bleibt er wie auch die übrigen Apostel im lebendigen - nicht gesetzlichen! - Zusammenhang mit seinem Volk und verkündet die Botschaft den Heiden, die für ihn wahrlich nicht losgelöste, volklose Einzelwesen, sondern ganz lebendig volkhaft gebundene und bis zur Dämonie leibhaft geprägte Vertreter ihres Volkes sind. Nur von der echten Volkhaftigkeit aus kann der Ruf zum neuen „Volk Gottes” verstanden werden, nur lebendige Völker können Gott als Opfer geheiligt werden.

LeerUnd hier, in der Tiefe des geprägten Volkstums, geschieht das Wunder der Neugeburt zum „heiligen Volk”; hier wird überwunden der Widerstreik, der Haß und die Feindschaft; hier wird wiedergewonnen die ursprüngliche Einheit, aus der die zerrissene und verlorene Völkerwelt gefallen war; hier wird der Sinn, auf den hin jedes Volk geschaffen war, in ursprünglichem Glanz wiederhergestellt; hier hört die Sprachenverwirrung auf und das einheitliche Lob Gottes ertönt wieder aus der Mannigfaltigkeit der schöpferischen Fülle heraus.

LeerDer Herr der Völkerwelt ist der Erlöser aller einzelnen Völker zu ihrem ursprünglichen Wesen, zum „Volk Gottes”. Diese Erlösung geschieht allein durch die Lebensmacht Gottes, der in Christus den „neuen Adam” setzte und in ihm die Völker zurückführte zu der ursprünglichen Schöpfungseinheit. Darum ist der Weg der Erlösung der Völkerwelt der Weg der Wiedergeburt jedes einzelnen Volkes; darum wendet sich alle echte Mission an das einzelne Volk; darum vollzieht sich der Heilsplan Gottes mit den Völkern so, wie es das Gleichnis vom Senfkorn offenbart.

LeerFreilich diese durch Christus bestimmte Heilsenkwicklung der Völker wird nur dem Auge des Glaubens offenbar. Das Auge der Welt sieht nur den Aufstieg, den Wettstreit, den Kampf, den Untergang der Völker. Wohl wird hier und da dem forschenden Auge eine überraschende Parallelität in der Entwicklung der verschiedenen Völker sichtbar, aber im Ganzen bleibt das Bild der nebeneinander lagernden, sich hier und da übereinanderschiebenden und auf Leben und Tod miteinander kämpfenden Völkerkulturen, wie Spengler sie beschrieben hat. Das. Wissen um das eine Volk Gottes, daß Gott sich sammelt mitten durch das harte Völkergeschehen hindurch, ist nur der Gemeinde gegeben, die um das Geheimnis des Christus weist, der der Herr und Richter ist über die Völkerwelt.

Das Gottesjahr 1934, S. 110-113
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-11
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