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von Karl Bernhard Ritter |
Wer sich selbst in seiner inneren Entwicklung beobachtet hat, weiß, wie durch einschneidende Ereignisse ganze Erlebnisreihen, die sich durch Jahre hindurchziehen, plötzlich einen neuen Sinn erhalten können. Nun weiß ich, worauf das alles hinaus wollte, wozu ich das alles erfahren mußte. Was bis dahin als quälendes Rätsel an meinem Lebenswege lag, ist nun gelöst. Es gibt Zeiten in unserem Leben, die warten auf ihre Erlösung. Vergangenheit ist nicht einfach Vergangenheit, sie ist immer ein Teil der Gegenwart, sie trägt, aber bindet und hemmt auch diese Gegenwart. Nur wer unsere Vergangenheit miterlöst, erlöst uns wirklich. Aber wir leben ja nicht nur eine individualistische Geschichte mit ihrer Vergangenheit. Die Weltgeschichte ist ja auch ein Querschnitt durch d a s untergründige „Geschichte” der Familie, der Sippe, des Volkstums, der Menschheit, ja weiterhin der Tierheit, der Pflanzenwelt und des ganzen Kosmos, aus dem unser persönliches, individuelles Leben aufwächst. Wenn wir in die dunklen Wasser zurückblicken, aus denen unser Leben aufgestiegen ist, so regen sich dort unten die Bilder einer vieltausendjährigen Vergangenheit. Wer weiß nicht von den Abgründen, die er geheimnisvoll verlockend oder schaudervoll in sich selbst entdeckte? Wer uns erlösen will, der muß in diese Tiefen und Abgründe hinabsteigen und in ihnen den neuen Tag des Lichtes und der Freiheit heraufführen. Von diesem Abgrund, dieser Tiefe des Lebens, da wir verflochten sind mit geheimnisvollem Wurzelgeflecht in die Geschichte der ganzen Menschheit und in die Geschichte des kosmischen Daseins, spricht das Wort „Hölle”. Das Wort Hölle bezeichnet nicht nur, wie im landläufigen Verstand, den Ort der Verdammnis. Hölle hängt mit hehlen zusammen. Sie ist der verhohlene Ort des Lebens, so wie die Höhle und die Brunnentiefe unter der Erde verhohlene Orte sind. Sie ist das Reich der „Mütter”, das Reich der Frau Holle. Im Märchen muß der Mensch durch den Brunnen hinab ins Reich der Frau Holle, wenn ihm die Spindel hineingefallen ist, d. h. wenn ihm sein Lebensfaden aus den Händen geglitten ist, wenn er mit seinem Verstande keinen Punkt mehr findet, wo er anknüpfen könnte, wenn er darum in Angst und Sorge verzweifeln möchte. Dann muß er in den Brunnen hinabsteigen und die Spindel suchen. Unten aber muß er Gehorsam leisten. Wer in der Tiefe der Seele arbeitet, der findet neue Klarheit, der findet das Gold eines verklärten Lebens. Wer aber in lüsterner Neugier hinabsteigt in die Brunnentiefe, der kommt mit Pech besudelt wieder herauf. Das Reich der Frau Holle ist die Höhle der Vergangenheit, der geschichtlichen und der kosmischen Vergangenheit, die unter unserem ganzen gegenwärtigen Dasein liegt. In ihr wohnen alle guten Geister, alle Ahnen unseres persönlichen Lebens, in ihr aber auch die Dämonen und der „Fürst der Finsternis”, der die Menschheit gebunden hat in die Macht des Todes und der Sünde. Von da fällt ein neues Licht auf die Lehre der Kirche von der „Erbsünde”, in der wir gebunden sind und von der uns Christus allein frei macht. Und zum anderen: Christus steigt mit der Fahne des Sieges hinab in die Hölle und bindet den „Fürsten der Finsternis”. Durch seine „Höllenfahrt”, da Christus für uns im Grabe liegt, im Reiche des Todes weilt, stößt er die Pforte des Todes auf und zerbricht die Mauern unseres Gefängnisses, in dem wir alle durch die Untergründe und Ursprünge unseres Lebens gefangen sind. Christus hat wirklich bis in alle die letzten unheimlichen, schrecklichen Tiefen des Menschenlebens hinein die Macht des Satans gebunden und in seinem Reich die Fahne des Sieges aufgepflanzt. Nur darum kann der Osterjubel aus wahrhaft befreiter Seele aufklingen, weil der Auferstandene zuvor „niedergefahren ist zur Hölle”. Nun ist der Sieg entschieden und unsere Lage in der Welt von „Grund aus” anders und neu geworden. Nun sind wir nicht mehr „von der Nacht noch von der Finsternis”, sondern „Kinder des Lichtes und Kinder des Tages” (1. Thess. 5, 5). Christus ist in alle Tiefen des Seins hinabgestiegen als unser Erlöser, als der Erlöser aller Kreatur. Dort will er die Macht des Bösen brechen und unser Heil schaffen. Darum ist die Meinung so verkehrt, daß der christliche Glaube etwas sei, was sich nur in unserem bewußten Denken und Wollen abspiele. Diese im Eigensinne des Worts „oberflächliche” Auffassung führt zu der fortschreitenden Entkräftung und Entleerung des Christentums, die wir alle mitangesehen haben. Bei dieser oberflächlichen Auffassung des Christentums bleiben die Tiefenschichten des Lebens völlig undurchdrungen, ungestaltet, ungeheiligt, und unser ganzes christliches Sein ist dann eigentlich nur eine Fassade, hinter der dunkle, unbesiegte Mächte am Werk sind. Verstehen wir, warum im Neuen Testament immer wieder die Rede ist von dem Sieg Jesu Christi über die bösen Geister, die „Teufel”, wie Luther übersetzt, und warum es ein entscheidendes Merkmal für die Sendung der Jünger ist, daß sie Macht erhalten über die unreinen Geister und die Teufel?! Hier wird im neuen Lichte erkannt, welche Aufgabe die Kirche Christi in der Welt hat, welcher Kampf ihr befohlen ist. Wenn uns nicht in allen Tiefen geholfen wird, so ist uns gar nicht geholfen. Wie geschieht das? Nur so, daß wir uns für Christus bis in alle Gründe hinein auftun. Das fordert freilich von uns ein Maß von Erkenntnis und Demut und Verzicht auf uns selbst und die eigene Kraft, gegen die wir uns immer wieder wehren. Es gibt Kräfte in unserer Unterwelt, die wir sozusagen dem Sieger Christus nicht ausliefern wollen, weil wir alle „in unseren Teufel verliebt” sind. Aber es gibt eine Hilfe: Wort, Sakrament und Gebet. Diese Art fährt nicht aus denn durch „Beten und Fasten”, so heißt es einmal im Evangelium. Das Heil Christi dringt in unsere Tiefen ein, wenn wir sie nur wirklich auftun und opfern. Dann kommt er und bindet den Fürsten in unserer „Hölle”. Ja, Er „hat das Gefängnis gefangen geführt”! (Eph. 4, 3.) „Des laßt uns alle froh sein, Christ will unser Trost sein.” Das Gottesjahr 1934, S. 79-81 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-11-11 |