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von Wilhelm Stählin |
Wunderbar sind Gottes Wege. Er „hat Lust zu der Wahrheit, die im Verborgenen liegt”, und auf verschlungenen Pfaden führt er seine Kinder an die Pforten der „heimlichen Weisheit”. Er läßt sie staunen über die Rätsel seines Ratschlusses und schweigt zu ihren ungestümen Fragen: „Warum, Herr?” Aber mit einem Mal ist der Vorhang hinweggezogen von dem Heiligtum, und das versiegelte Buch liegt aufgeschlagen bereit. „Das Blut Jesu Christi des Sohnes Gottes macht uns rein von aller Sünde”. Wie viele von uns haben unter diesem Wort gelitten und mit ihm gehadert! Wir waren erschüttert von dem abgründigen Ernst dieser Botschaft; umgetrieben von der Erinnerung daran, wie viele Geschlechter aus dem Glauben an dieses auf Golgatha vergossene Blut den getrosten Mut gefaßt haben zu leben und zu sterben. Mit zitternden Lippen haben wir am Karfreitag mit der Gemeinde gesungen von den heiligen fünf Wunden rot. Aber zugleich standen wir doch außerhalb dieser fremden und unheimlichen Welt. In solcher „Blut- und Wundentheologie”, vollends in einer verzückten Verehrung des rosenroten Blutes und der Wunden, daraus es geflossen, sahen wir nur eine geschmacklose Verzerrung des christlichen Erlösungsglaubens; und wir lehrten gern unsre Kinder, in diesem Blut nur ein Zeichen und Gleichnis der göttlichen Liebe zu sehen, die der Heiland in seinem ganzen Leben den Menschen erwiesen. Auf verschlungenem Weg hat Gott uns die Pforte entriegelt und die Hülle hinweggezogen von dem Altar, auf dem das blutige Opfer vollbracht wird. Wie konnte auch von der Kraft des Blutes Jesu Christi wissen und zeugen ein Geschlecht, das überhaupt nicht mehr wußte um das Geheimnis des Blutes? Vergangenen Geschlechtern war das Blut, das heiße Blut, das unser Herz durch die Adern treibt, der eigentliche Sitz und Träger des Lebens. Die sinnbildliche Bedeutung, in der wir vom Herzen als dem innersten Lebenszentrum reden, ist noch eine blasse Erinnerung an diese uralte Wertung des Blutes. An der Schwelle der „neuen Zeit” steht als klassischer Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses des Menschen: „Cogito ergo sum”. Nicht mehr in dem Strömen unseres Blutes, sondern in unsrem Denken erfahren und erfassen wir unser Leben; nicht mehr das Herz, sondern der Kopf regiert den Menschen. Und mehr als ein Jahrhundert fühlte sich berechtigt, von der Höhe reiner Geistigkeit dankbar und lächelnd herabzuschauen auf jene vergangenen Zeiten, in denen der Herr „die Nieren prüfte” und Freundschaften geschlossen wurden mit rotem Blut. Noch Paul Gerhardt konnte Gott preisen als den, der uns Leben und Geblüt gibt; wir aber waren gelehrt, Gott vor allem um große Gedanken zu bitten. Die Götter des Blutes sind zu ihren verlassenen Altären zurückgekehrt. Aber es sind wilde und grausame Herren. Das Blut erweckt in denen, die es anbeten, den Rausch wilder Leidenschaft. Ungebändigte Triebe, sinnliche Gier, Zorn und Haß haben aus der Quelle des Blutes getrunken. Es ist dasselbe Blut, das die Wange lieblich rötet und das in geschwollenen Adern den Jähzorn verrät und speist. Darum ist das Blut, der Inbegriff unsrer vitalen Kraft, zugleich Inbegriff der furchtbaren Zwiespältigkeit unsres Wesens, Träger der Tierheit, in der unser Wesen gründet und die doch zugleich unser menschliches Sein ständig bedroht und verwüstet. Darum ist die vitale Kraft niemals Selbstzweck, niemals der eigentliche Sinn unsres Daseins. Alle Vitalität erfüllt ihre Bestimmung nur, indem sie gebändigt wird in der Zucht, indem sie hingegeben und verbraucht wird im Dienst eines höheren Lebens. Das Blut strömt in unsren Adern, aber es ist von der tiefsten symbolischen Bedeutung, daß nur das vergossene Blut unsren Augen sichtbar wird. Unzertrennlich sind wir Menschen miteinander verbunden „und müssen voneinander leben auf geheimnisvolle Weise”. Das vergossene Blut ist der gewaltige Ausdruck aller unheimlichen Verflechtung, in der wir Menschen aneinander gekettet sind in Haß und Liebe. Abels Blut schreit zum Himmel, denn die Erde, die das vergossene Blut getrunken hat, wird zur furchtbaren Klägerin wider das Menschengeschlecht. Aber wir alle haben unser leibliches Dasein nur, weil die Mutter, die uns trug, uns genährt hat mit ihrem Blut, und kein Mensch wird zur Welt geboren, ohne daß eine Mutter um ihn ihr Blut vergießt. Das Blut, das millionenfach auf Schlachtfeldern vergossen ist, ist das grausame Gericht über eine Menschheit, die in Fiebern des Hasses gegeneinander rast, aber zugleich die Besiegelung der Liebe, die das eigene Leben läßt für die Freunde. Darum rührt das Gedächtnis derer, die für die Ehre und die Freiheit ihres Volkes gefallen sind, an ein innerstes und erhabenstes Geheimnis des Lebens selbst. Das Leben wird verstanden nur von seinen Grenzen her. In dem vergossenen Blut ist tiefer das Leben erfüllt als in langen Jahrzehnten, in denen das Blut friedsam und träge durch die Adern rinnt. Was sind die erhabensten Gedanken, was ist die edelste Gesinnung gegen die Urmacht des vergossenen Blutes. In dem Tempel, in dem die Götter des Blutes verehrt werden, steht der Altar, der nach blutigem Opfer verlangt. Auf dem Weg solcher Erkenntnis hat uns der Herr des Lebens geführt, und unversehens stehen wir mit einemmal vor der Pforte des innersten Heiligtums. Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde. Unser blutleeres Christentum, das die Erscheinung Jesu Christi zu einer erhabenen Lehre und den Glauben in eine Weltanschauung verwandelt hatte, muß erst wieder daran erinnert werden, daß es ein Blut Jesu Christi gibt. Es gibt ein Blut Jesu Christi, weil Gott Mensch geworden ist, weil sich das ewige Gut in unser Fleisch und Blut verkleidet hat. Noch in den seltsamsten und geschmacklosesten Betrachtungen, die zu Zeiten über das Blut Jesu Christi angestellt worden sind, klingt nach das fassungslose Staunen und die kindliche Freude darüber, daß wir nicht eine rein geistige Offenbarung, nicht einen erdachten Heiland haben, sondern einen Heiland mit Fleisch und Blut. Die Sinnenfreude, mit der Maler und Dichter das Geheimnis der Menschwerdung und die himmlische Anmut der Gottesgebärerin ausgemalt haben, ist ein Stammeln der Ehrfurcht vor diesem Mysterium, daß das göttliche Kind von einer menschlichen Mutter menschliches Blut empfangen hat. Aber das heilige Blut ist vergossen worden. Menschenhände haben den Leib des Gottessohnes blutig geschlagen. Menschenhände haben seine Füße und Hände mit grausamen Wunden durchbohrt. Von dem heiligen Leib floß das Blut auf diese Erde. Matthias Grünewald und hundert andere vor und nach ihm haben sich unterfangen, das grausige Bild eines blutüberströmten Leibes als das Bekenntnis ihres Christusglaubens zu malen, und mit erschütterter Seele fühlen wir nach die Erschütterung ihres Herzens: O Haupt voll Blut und Wunden. „Ich glaube, daß Jesus Christus sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut”. Diese Worte des Kleinen Katechismus führen in das Allerheiligste des Christusglaubens. Derselbe Mensch, der Gott gedankt hat, der ihn geschaffen hat, der ihm seinen Leib und alle Glieder gebildet, der ihm Leben und Geblüt gegeben hat, derselbe Mensch, der für die unbegreifliche Gabe dieses blutwarmen Lebens dem Schöpfer zu danken nicht müde werden will, derselbe Mensch weiß, daß er in dieser seiner menschlichen Existenz verdirbt, daß er nicht nur wie alle Kreaturen dem Tode verfallen, sondern daß er als Mensch unentrinnbar verstrickt ist in den Widerspruch gegen Gott; daß sein eigenes Fleisch und Blut ihn selber zerstört in dem grauenhaften Zwang der Selbstvernichtung: Ich verlorener und verdammter Mensch! Es kommt nicht darauf an, was wir beim Anblick der heiligen fünf Wunden empfinden; es kommt nicht darauf an, welchen Eindruck uns das heldenhafte Leiden Jesu macht. Es ist nicht wesentlich, was wir, indem wir Christus auf seinem Todeswege begleiten und seine Passion begehen, in unserer Seele erleben. Das Blut ist eine Wirklichkeit, die wir mit unsren Gedanken nicht erst wirksam machen und mit unsrer Gedankenlosigkeit nicht entkräften. Das vergossene Blut ist ein Geschehnis, das in die Geschichte eingeht und das unser Leben auf einen neuen Grund stellt, längst ehe wir mit unsren Gedanken ihm haben nach-denken können. Freilich, das auf Golgatha vergossene Blut wird zum Blut der Erlösung nur an denen, die demütig genug geworden sind, aus der Kraft dieses Blutopfers ihr Leben neu zu empfangen. Das Mittelalter hat aus seiner christlichen Seele die Legende vom Gral gedichtet, die Legende von der kristallklaren Schale, in der das Blut des Erlösers bewahrt wird. Der Gral wird gehütet von den priesterlichen Rittern, die zu seinem Dienst bestellt sind. Parzifal wandert durch den finsteren Wald, wandert durch alle Mühsal und alle Irrsal eines Menschenlebens, bis er gewürdigt wird, auf Mont Salvatsch, auf dem Berge des Heils, den Gral zu schauen und aus ihm alle Gnade zu trinken. Wir wandern gleich Parzifal durch alle dunklen Wälder unsrer Irrtümer und unsrer Leidenschaften, über alle Berge unsrer Eitelkeit und durch alle Schluchten unsrer Niederlagen, bis auf verschlungenen Pfaden Gott uns führt in die unsichtbare Burg, wo wir aus dem Kelch des Heils das Blut des Heilandes trinken. Und wir werden weiter wandern als verwandelte Menschen über eine verwandelte Erde, deren Blutschuld versöhnt ist durch das Opferblut der Liebe. Das Gottesjahr 1934, S. 74-78 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-11-11 |