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von Wilhelm Stählin |
Wenn die Stunde der Offenbarung geschieht, dann wird das rätselvolle „Es”, von dem alle Weisheit raunt, zu einem „Ich”, das uns anredet und aufruft, dann blickt aus allem Dunkel, aus allen Nächten und Rätseln das ewige Auge uns an; dann tritt unsrem furchtsamen und stolzen, unsrem selbstgefälligen und verzagten menschlichen Ich das ewige „Ich bin” Gottes in den Weg, und keine Frage kann dann so dringlich sein wie die Frage des Menschen, der von solchem Blick und solchem Ruf getroffen ist: Wer bist du? Der Brief an die Hebräer schaut den Unterschied des Alten und des Neuen, der Welt vor Christus und der in Christus angebrochenen neuen Welt, in dem Bild der beiden heiligen Berge: Sinai und Zion. Heilig ist der Berg Sinai, und um seiner Heiligkeit willen darf kein Mensch und kein Tier an ihn rühren, und das Volk verhüllt sein erschrockenes Auge. Heilig ist der Berg Zion; aber auf ihm hat Gott seine Stadt erbaut, in der Menschenkinder wohnen dürfen in dem Licht seiner Gnade und der Lobgesang unvergänglicher Freude nie verstummt. Auf beiden Bergen redet der Ewige und offenbart sein Wesen: Ich bin. Wenn die Offenbarung geschieht, dann tut sich der Vorhang hinweg von dem gänzlich Verborgenen, und der, den kein Auge gesehen hat noch sehen kann, spricht zu denen, die ihn gesucht haben und spricht es zu denen, die ihn nicht gesucht und nicht nach ihm gefragt haben: Hier bin Ich; hier bin Ich! Aber es ist ein anderer „Ich-bin”, der auf dem Berge Sinai und der auf dem Berge Zion redet. Unnahbar und unheimlich, voll zornigen Anspruchs, wie der von Blitz und Donner umrauschte Gipfel des Wüstenberges dröhnt das Wort: Ich bin der Herr dein Gott. Der „Ich bin” reißt die Kluft auf zwischen sich und aller Kreatur, und dieser Abgrund spaltet den Boden, auf dem der arme erschrockene Mensch steht: Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen. Der „Ich-bin” vom Sinai verkündet in Blitz und Donner das Gesetz: „Nun spricht der Ewige: Ich will, ihr sollt”. Und hinter einem jeden Gebot steht die Majestät des zürnenden und strafenden „Ich bin”. Durch den Mund des Menschensohnes kommt zu den Menschenkindern der andere „Ich-bin” und macht sein verborgenes Wesen offenbar. Nicht daß von neuem das Auge sich schließt vor unerträglichem Glanz, sondern daß das Auge ganz aufgetan wird zu schauen, immer neu, immer tiefer hinein, immer höher hinauf zu schauen. Der „Ich-bin” des Neuen Bundes steht nicht auf unzugänglichen Felsen, der durch unübersteigliche Klüfte von dem Land der Menschen getrennt ist. Er hat selbst die Gestalt des Menschen angenommen, und er macht das menschliche Leben und die Kreatur um ihn her zu seinem Gleichnis. Mit den kleinen Dingen unsres menschlichen Alltags verbindet sich der Menschen- und Gottessohn und macht sie zum Gewand, das sein Geheimnis umschließt. „Ich bin das Licht”. Das himmlische Feuer hat die Menschheit entzündet und sich den Menschensohn bereitet, an dem alles Irdische ganz geheiligt, ganz durchscheinend, ganz jenseitig geworden ist, und in diesem brennenden und scheinenden Licht erscheint der ewige „Ich-bin”. Das Licht scheint in der Finsternis, und es macht die unheimlichen Schatten offenbar. Wer den Raum seines Lebens diesem Licht verschließt, der hat sich mit der Finsternis verbündet und muß ihre ewige Verdammnis tragen. Die aber das Licht erwählen, werden selbst verwandelt in das Licht. Kein Licht ohne Opfer und Wandlung. Alle Welt und alles Menschenwesen ist dunkler Stoff, der darauf wartet, verklärt zu werden. Aller Erdenraum wartet darauf, von dem Christuslicht erobert zu werden. Und wo der „Ich-bin” sein Machtwort spricht „Es werde Licht”, da ist der Morgen der zweiten Schöpfung angebrochen. „Ich bin das Brot.” „Dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.” In diesem Himmelsbrote empfängt die Menschheit das Opfer Gottes. Gott selber geht ein in das menschliche Leben auf Erden; der Leib des Gottessohnes wird gebrochen, und sein Blut strömt auf die Erde. Er will empfangen werden als die geheimnisvolle Speise, die uns das Leben rettet und erhält. Ich bin das Brot; das heißt, ihr dürft, ihr sollt mich „zu euch nehmen” wie euer tägliches Brot. Ich will in euch eingehen und mich wandeln lassen in euer Leben. Ich will Leben wirken in eurem Fleisch und Blut, in euren Gedanken und euren Trieben, in eurem Werk und in eurer Liebe. Der Herr des Himmels steigt von seinem erhabenen Thron und bereitet uns den Tisch, auf dem sein heiliger Leib für uns gegeben wird. „Daß wir nimmer des vergessenFromme Sitte zeichnet den Laib Brot, ehe der Hausvater ihn den Seinen teilt, mit dem Zeichen des Kreuzes. Denn durch Christus ist das Brot ganz heilig geworden; nun ist der Heilige unser tägliches Brot geworden. Der „Ich-bin” ist unser Brot. „Ich bin der Weinstock.” Der „Ich-bin” hat sich selbst mit seinem Leben in diese Erde eingesenkt, mit Fleisch und Blut Wurzeln in den Menschheitsboden getrieben; nun wächst auf Erden der heilige Stamm nach dem in ihm wohnenden Gesetz durch die Kraft, mit der er von oben begnadet wird. Aus seinem göttlichen Wuchs sprießen tausend Äste und Zweige und Zweiglein und Blätter und werden gesegnet mit Gedeihen, weil sie Äste am Baum, Reben am Weinstock sind. Einsam müssen sie verwelken und verdorren. Aber weil sie ganz und gar an Ihm leben, darum strömt aus verborgenen Tiefen und Höhen immer neue Kraft auf ihren Lebenstag. - Und dies ist der heimliche Segen ihres Lebens, daß die natürlichen Kräfte, die gespeist werden aus Boden und Blut, gewandelt werden zur köstlichen Frucht; zu der Frucht, die der himmlische Herr in seinem Weinberg sucht. Die Frucht aber ist der mütterliche Schoß, der neues Leben in sich trägt. „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.” In Christo sein, das heißt leben, Blüte und Frucht sein an dem Weinstock himmlischen Lebens, den Gott in den Ackerboden der Welt gepflanzt hat; der süße Wein des Geistes und der Liebe ist die durch Christus gewandelte Menschennatur. „Ich bin der Hirte.” Wer Christus begegnet, weiß sich von seinem unbestechlichen Blick durchschaut, erkannt in seinem Innersten und Geheimsten, gerufen bei seinem Namen. Christus und unser innerstes Wesen „erkennen” einander wie Liebende einander erkennen, als seien sie sich von Ewigkeit her vertraut. Der Ruf Christi bindet die einsamen Seelen zur Gemeinschaft zusammen. Wer sich entschlossen der Führung dieses Hirten anvertraut hat, in dem wandelt sich alle Furcht und Sorge in ein tiefes und heiliges Gefühl der Geborgenheit. Suchen wir nicht alle jenen Frieden, in den sich unsre Kinder bergen: „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten...” Der „Ich bin” selber ist der Hirte und Hüter unsres Lebens, und mit dem Opfer seines Lebens besiegelt er den Ernst und die Treue seines Hirtenamtes. Ist es ein Zeichen von weichlicher Schwäche, vom guten Hirten zu reden? Vielleicht muß ein jeder versucht haben, sein eigener Hirte zu sein; vielleicht hat ein jeder versucht, der unerbittlichen Liebe zu entrinnen. Wir haben ihn nicht zu unsrem Hirten erkoren. Er wartet, bis wir ihn sein lassen, was er ist: „Ich bin der Hirte.” Den Zugang wohin? Christus ist die Tür, durch die wir zu uns selber kommen. Wie oft war die Tür verschlossen, oder unser Fuß zögerte an der Schwelle, wenn wir unser eigenes innerstes Wesen suchen und finden wollten. Nur das Gotteskind schreitet sicher über die Schwelle; nur wer die Christustür des Gehorsams und der Demut erwählt, findet wirklich heim zu sich selbst. Christus ist die Tür, durch die wir zu unsrem Bruder kommen. Wie oft war uns diese Pforte peinvoll verschlossen; und wie oft sind wir durch die Tür des Zornes und der Gewalttat, durch die Tür der Lüge oder die Tür selbstischer Begierde in den Lebensraum des anderen Menschen eingebrochen. Wer durch die Christustür der Liebe geht, der hat wirklich den engen Raum seines Ich verlassen und hat zu dem anderen gefunden. Und diese Tür steht immer offen. Christus ist die Tür, durch die wir zu Gott kommen. Beten in Jesu Namen, das heißt durch ihn, durch ihn hindurch zu dem Vater gehen. Unser denkender Verstand, unser eigener Machtwille, unsre Tugenden und Leistungen sind verschlossene und verriegelte Türen in dem Gefängnis der Welt. Christus ist die Tür, die in die Freiheit führt, in die Freiheit der göttlichen Gnade. Man muß es lernen, und man muß es üben, durch diese Tür zu gehen. „Ich bin der Weg.” Durch das Dickicht und das Dorngestrüpp aller menschlichen Irrungen und Leidenschaften zeigt der „Ich-bin” sich selbst als Weg, als den Weg. Kein anderer Weg führt durch die Wüste der Städte, durch die Wüste des Hasses, durch die Wüste der Angst und der Schuld. Es ist der ewige Weg der Liebe, des Leidens und des Opfers. Es ist der Kalvarienweg, der keine Leidensstation erspart; er ist der Weg der Einsamkeit und der Tränen, der Weg der Anfechtung und der blutenden Wunden. Er ist der Weg, der aus volkreichen Straßen der Stadt hinaus führt zu dem Richtplatz Gottes. Er ist der Weg, der durch alle Leiden hindurch zum Sieg und zur Vollendung führt. Am Ende des Weges, oben auf dem Gipfel des Kalvarienberges, steht das Gnadenbild. Und wer dort anlangt, läutet die Glocke der Danksagung. An jedem Wege steht - sichtbar oder unsichtbar - das Kreuz. Das Wegkreuz gibt jedem Weg seinen letzten Sinn: daß wir Christus erwählen als unsern Weg; daß wir unsern Weg gehen als den Christusweg. Um den Weg wissen ist gut. Den Weg gehen ist nötig. Er aber spricht: „Ich bin der Weg.” Und die ihm nachfolgen, werden selber zu einem Stücklein Weg in dem Dunkel und Dickicht der Welt. „Ich bin das Leben.” Der „Ich-bin” macht nicht den Tod, sondern das Leben, das blutwarme Leben, zum Gleichnis seiner selbst, zum Ort, da er erscheinen will mit seinen Gnaden. Nicht die Befreiung vom Leben, nicht irgend ein Schattenreich jenseits des Lebens ist der Ort seiner Ehre, sondern das Leben selbst. Der „Ich bin” ist der Lebendige. Das Heil ist das Leben. Das Leben ist nicht wert gelebt zu werden, wenn es keinen Sinn hat. Das bloße Dasein, die vitale Kraft allein mag der Pflanze, mag dem Tier gemäß sein. Über dem Menschen, der nichts aufzuweisen hätte als die strotzende Kraft der Muskeln, als das Feuer seines überschäumenden Blutes liegt die tiefe Traurigkeit eines beschämenden Widersinns. Denn der Mensch muß fragen nach Sinn und Ziel. In das strotzende Leben fährt gewalttätig durchkreuzend die Frage nach der Wahrheit. Denn den Menschen schuf der „Ich bin”, daß er sein Bild sei auf Erden. - „Ich bin die Wahrheit.” Es heißt nicht „Ich sage die Wahrheit”, nicht „Ich bringe die Wahrheit”. Diese Wahrheit kann man nicht wissen oder haben, und man kann sie nur erkennen, indem man sich ihr verbündet und von ihr gewandelt wird. Die Wahrheit des Lebens erscheint nur im Leben. Darum offenbart der Ewige die Wahrheit nicht in Spruch oder Buch, sondern in dem lebendigen Sein des Sohnes, in dem der Vater angeschaut und empfangen wird als Speise und Trank. „Ich bin die Wahrheit und das Leben.” Der tote Stein liegt nur kraft seiner Schwere auf seinem Boden; das erstorbene Blatt wirbelt der Sturm dahin und dorthin. Die lebendige Pflanze aber streckt ihre Wurzeln ins Erdreich, und ihre Blätter und Blüten saugen aus Luft und Licht ihre Grüne und allen Reichtum ihrer Farben. Alles Leben strömt in dem lebendigen Kreislauf. Leben holt Kräfte aus dem Unten und aus dem Oben; Leben streckt seine Zweige wie menschliche Hände nach rechts und nach links. Leben ist Liebe. Eingesperrt sein in das selbstherrliche und eigenmächtige Ich, nicht da sein für Brüder und Schwestern, das ist der Tod. Aber empfangen und gewähren, beschenkt werden und selber sich verschenken, ringen mit dem Widerstand, reich werden aus Härte und Güte des anderen und selber als Brot gebrochen werden, von dem Menschen satt werden: das ist das Leben. Darum heilt Christus den Blinden, daß er sehen kann, den Tauben, daß er hören kann, den Stummen, daß er reden kann, den Lahmen, daß er gehen kann: Die Auferweckung des Toten zum Leben und zur Liebe, das ist sein Werk. Haß ist Tod. Der „Ich bin” ist die Liebe. Der „Ich bin” ist das Leben. Leben ist täglich und stündlich im Kampf mit dem Tode. Über alles Lebendige ist mächtig der Tod „dem kein lebender Mensch entrinnen mag”. Der Weg des Lebens führt zu einem unerbittlichen Ende, und hinter jeder Hoffnung lauert das Grauen des Todes. - Christus wäre nicht das Leben, wenn er nicht auch den Tod auf sich genommen hätte. Fassungsloses Staunen hat durch die Jahrhunderte immer neu gerungen, in Passionsliedern und Kreuzigungsbildern, in dem „Vesperbild” der um den göttlichen Sohn trauernden Maria, um dies unergründliche Geheimnis „Gott selbst ist tot”. Nein, anders muß es gesagt werden: Der „Ich bin” ist auch im Tode. Aber in diesem letzten Triumph wird die Ohnmacht des Todes offenbar. Die Grenze des Menschen ist nicht die Grenze Gottes. Vom Leben zum Tode, das ist der Weg des Menschen. Aber vom Tod zum Leben, das ist der Weg Gottes. Der „Ich bin” ist die Auferstehung. Wer an Christus Anteil gewinnt, ist „aus dem Tode ins Leben gekommen”; weil er sich vor dem Tode nicht fürchtet, wagt er mit Freuden zu leben. Der „Ich bin” ist die Speise des zukünftigen Lebens.Das Gottesjahr 1934, S. 58-66 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-11-11 |