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Der Ruf
von Ludwig Heitmann

LeerIm ältesten Evangelium wird die Berufung der ersten Jünger mit den kurzen Sätzen berichtet: „Und Jesus sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Alsobald verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.”

LeerVon keiner Vorbereitung wird erzählt, keine psychologische Erklärung versucht. Das Ereignis des Rufes, die Wirkung der Gefolgschaft wird einfach hingestellt. Diese karge Darstellung ist der schlechthin angemessene Ausdruck für das Ereignis, das hier geschehen ist, für das Wunder, das sich vollzogen hat. Die Schöpfungstaten Gottes entziehen sich der menschlichen Erklärung, sie stehen in geheimnisvoller Einsamkeit mitten im menschlich-irdischen Geschehen.

LeerFreilich laufen die Fäden der Vergangenheit und der Zukunft auf dies Ereignis hin und von ihm aus. Vor dem Jüngerruf liegt sicherlich eine tiefgreifende innere Lebensbereitung, ja eine durch eine ganze Volksgeschichte laufende Entwicklung, die in ihm ihre „Erfüllung” findet; und dieser grundlegenden Berufung folgt ein unabsehbar weitgreifendes Lebenswerk, ja die Geschichte einer ewigen Kirche. Aber das Ereignis selber bleibt eine geheimnisvolle Wundertat Gottes, die nicht erklärt, sondern nur in dem Maße begriffen werden kann, als sie immer wieder Ereignis wird - durch Gottes Wunderwirken.

LeerIn Christus ist dies Wunder in die Welt getreten. Er ist der Ruf Gottes an die Welt - das ewige Wort, das eine verlorene Welt zurückruft in die Gemeinschaft des Vaters. Dieser Ruf ist immer schon im Verborgenen erklungen. Seit den Urtagen der Menschheit sind „Rufer” aufgetreten, denen ein Wissen in die Seele geworfen war, das nicht von dieser Welt war, Prophetengestalten, die eine unerhörte Wahrheit verkündigten, vor der die Menschen erschraken, die nur von ganz wenigen ins Herz gefaßt und weitergetragen wurde. Hier aber hat der Ruf die volle Klarheit und die sieghafte Kraft gewonnen. Nun ist er in der Welt und kann nicht wieder verstummen. Nun wird er fortklingen bis zum Hall der letzten Posaune, die Gottes verlorene Schöpfung zu neuem Leben ruft, das den Tod nicht mehr kennen wird. Christi Ruf an die Welt ist das Wort der neuen Schöpfung, das die Wandlung vollzieht vom Tode zum Leben. Dieser Ruf ist darum schlechthin anderer Art als die tausend Stimmen, die die Menschen hierhin und dorthin ziehen. Wir Menschen werden ja dauernd angerufen von Stimmen, Ansprüchen, Führern, Ereignissen, die unser Leben in immer neue Bewegung versetzen. Hier aber wird eine Stimme wach, die durch alle Stimmen hindurchschlägt, die zur letzten Entscheidung über Tod und Leben aufruft, die Wirkungen hervorruft, die innerhalb der irdischen Sphäre schlechthin unverständlich bleiben.

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LeerAlle irdischen Ansprüche können den Menschen nie so völlig entwurzeln, wie es bei diesen Fischern geschehen ist. Die äußere Loslösung von Heimat, Familie, Erwerb und der Übergang in ein ungewisses Wanderdasein sind ja nur Auswirkungen einer viel tiefer greifenden Entwurzelung, die Sinn und Inhalt der irdischen Existenz überhaupt angreift. Seitdem die Jünger diesen Ruf gehört haben, können sie nicht mehr zurück in das als sinnlos, sündig und leer erwiesene Leben der Vergangenheit. Das abwehrende Wort, das uns das dritte Evangelium berichtet: „Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch”, ja auch die bange Frage beim vierten Evangelisten: „Herr, wohin sollen wir gehen?” offenbaren diese erschütternde Erkenntnis, die nun nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Von Stund an sind die Junger hörig. Das unerbittliche: „Her zu mir!” läßt ihnen keine Wahl mehr: Der Schiffbrüchige, der das Schiff unter den Füßen sinken sieht, hat keine andere Wahl; er muß auf das rettende Schiff hinüberspringen.

LeerDenn das ist die andere Seite dieses Rufes: er offenbart eine völlig neue, rettende Lebenswirklichkeit („Du hast Worte ewigen Lebens”), die so durchschlagend überzeugend ist, daß sie blinde Gefolgschaft erzwingt, ja daß sie allen Verzicht auf die vergangene Welt vergessen läßt. „Habt ihr jemals Mangel gehabt?” fragt der Meister die Jünger am Abschluß eines entsagungsreichen Wanderlebens. „Nie den geringsten!” ist die Antwort. Mehr als das! Ihr Leben gewinnt nun einen Inhalt, der höchste Spannung und freudigste Opferkraft in sich trägt: ans Fischern werden Menschenfischer, aus mühseligem Erdentagewerk wird das lebenschaffende Wirken für ein ewiges Reich. Nun erst sind sie wirklich hineingerufen in diese Welt, seitdem sie ihr verborgenes Ziel geschaut haben.

LeerUm das Geheimnis dieses Rufes, der den Jünger schafft, zu ergründen, haben unsere Väter drei Kennzeichen aufgerichtet, die auch unsere Gedanken leiten mögen, wenn wir uns auch sagen müssen, daß alles menschliche Nachdenken über das Geheimnis der Berufung nie seine letzte Tiefe erfassen wird. Unsere Väter sagten: Der Ruf Christi ist ernsthaft, durchschlagend und allumfassend.

LeerErnsthaft! Das kann nicht besagen, daß es sich hier um eine ernste und wichtige Sache handelt - das wäre eine Selbstverständlichkeit -, sondern um die Tiefe der menschlichen Existenz überhaupt: es geht hier um Leben und Tod im letzten, ewigen Sinne, um das Heil. Der Ruf Christi weckt jene tiefe Lebensangst, die jäh erkennt, daß in der Entscheidung, zu der er aufruft, alles, der Lebenssinn überhaupt, verloren werden kann. Darum ist es nicht Zufall, das; dieser Ruf im Menschenleben am deutlichsten an den großen Wendepunkten, in den Entwicklungsjahren, am Übergang zur Lebensreife, vor dem Abstieg zum Alter gehört wird. In seiner aus Gottes Tiefen stammenden Ernsthaftigkeit liegt es aber auch beschlossen, daß er immer an ganz konkreten Ereignissen, in persönlichsten Begegnungen, niemals in allgemeinen Gedanken erwacht. Das Wesentliche ist, daß er immer im strengsten Sinne persönlich erlebt wird, und zwar in der Doppelseitigkeit: vom Menschen und von Gott her. Das „Du bist gemeint!” wird in der ungeheuren Einsamkeit, ans der dieser Ruf herüberhallt, mit der ganzen unausweichlichen Wucht erlebt, vor der es kein Entrinnen gibt. Auf der andern Seite aber offenbart sich in dem echten Ruf das Geheimnis der Welt immer als Persönlichkeit, als das gegenüberstehende Du. In dem echten Ruf offenbart sich Gott als „der Persönliche”, mehr als das: als der „Fleischgewordene”, der in dies sichtbare Erdenleben leiblich hineingetreten ist. Nur im corpus Christi, im echten Zwiegespräch, in der echten leiblichen Gemeinde, im wirklichen Geschehnis, in der konkreten Begegnung mit Christus wird die Ernsthaftigkeit des göttlichen Rufes erfahren. Christus kam an den See - nur durch diese persönliche Gegenwärtigkeit wurden aus armen und sündigen Fischern berufene Menschenfischer.

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LeerDurchschlagend! Der Ruf Christi reißt die letzte Hülle vom Menschen und offenbart die menschliche Lage in ihrer vollen Hilflosigkeit. Durch den echten Ruf wird der Mensch „erkannt” bis in die Tiefe seines Wesens. Der Mensch wird „bei seinem Namen” gerufen. Darum ist der Ruf im höchsten Sinne wirksam. Er stellt den Menschen an seinen Ort. Erst wenn er diesen Ort kennt, fängt er wirklich an zu handeln, weil er nun im Zusammenhange des Ganzen, in dem Strom der göttlichen Willensmacht steht. Berufen sein heißt - im Kraftfeld des göttlichen Willens liegen. Nun hört der Zweifel, der Widerstand, das „unordentliche Wesen” auf - Gott ist es, der nun wirket beides, das Wollen und das Vollbringen. Darum ist es das Kennzeichen aller Menschen, die den Ruf hörten, daß sie folgen müssen, daß sie getrieben werden, daß sie ohne Furcht und Zaudern reden, handeln, sich hineinwerfen. Jünger sein heißt, besessen sein von einer Kraft und einer inneren Nötigung, die im blinden Vertrauen dem Wort des Führers gehorcht.

LeerAllumfassend! Unsere Väter haben dies Kennzeichen des göttlichen Rufes verengt auf den Gedanken der Allgemeingültigkeit für alle Menschen und haben dadurch die Schwierigkeit der Calvinistischen Prädestinationslehre zu überwinden gesucht. Das Allumfassende des göttlichen Rufes aber kann nur von innen her ergriffen werden: wo der Ruf gehört ist, erschließt sich die ganze Welt und alles Geschehen als von diesem Rufe durchdrungen. Er klingt nun hindurch durch das Ringen der Völkerwelt wie durch die geringsten Schicksale des Kleinsten unter den Menschenkindern, er wird herausgehört aus dem Seufzen der Kreatur und der Sphärenmusik der einsamen Sterne, er wird wach in jeder Begegnung des Alltages und in jeder Aufgabe der Stunde. Wer berufen ist, kommt nicht wieder frei von dem Rufe, sein Leben wird beherrscht von ihm. Die toten Dinge werden ihm zum „Hinweis”, zum Gleichnis eines ewigen Geschehens, er wird, ohne daß er es will und hindern kann, zum Zeugen und Rufer, zum Menschenfischer, der andere aufweckt und stutzig macht, so daß sie einen Klang ans ewiger Ferne vernehmen. Wer von Christus angerufen ward, der tritt hinein in die Schar der Rufer, die durch die Welt gehen als Zeugen und Boten des Kommenden.

LeerDie ersten Zeugen und Bekenner Christi nannten die Botschaft, die sie in die Welt trugen, das Kerygma: den Ruf. Sie trugen den Ruf nur weiter, den Christus in ihre Seele geworfen hatte. Sie nannten die Menschen, die ihren Ruf hörten, die „Schar der Herausgerufenen”. Sie redeten sich gegenseitig an als „Gerufene Jesu Christi”. In diesem Rufe war für sie das Geheimnis des Himmels und der Erde beschlossen. Das „versiegelte Geheimnis” dieses Rufes weiterzugeben, war für sie der alles beherrschende Sinn dieses Erdenlebens.

Das Gottesjahr 1934, S. 48-51
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-11
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