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von Adolf Köberle |
Es gibt in unserem menschlichen Leben eine Fülle von Realitäten, die sind voller Wunder und Geheimnis. Wir gebrauchen und beobachten sie tagtäglich harmlos, gedankenlos und ahnen zumeist nicht, was für abgründige Tiefen dahinter verborgen liegen. Wir brauchen dabei nur einmal zu denken an die Wunderwerkstatt unseres Leibes, wie er sich von einem Jahr zum anderen aufbaut und erhält, an die Geheimnisse von Geburt und Tod, an das Mysterium der Zeit oder an die Kraftströme von Familie, Volk und Rasse, aus denen sich unser Ich bildet und gestaltet. Ein solches Wunderreich, über das sich niemand mehr wundert und das doch im Grunde voller wundersamer Größe und Verantwortung ist, ist auch die uns Menschen geschenkte Gabe des Wortes. Zunächst erscheint uns nichts alltäglicher, banaler, selbstverständlicher als die Tatsache, daß das Wort aus unserem Munde geht, daß wir über die Gabe der Rede verfügen. Nichts dünkt uns leichter und billiger als die Kunst, Worte zu machen. Allein sobald wir nur einmal anfangen und ein wenig über dieses täglich und stündlich so viel gebrauchte und mißbrauchte Wort nachdenken, werden wir still und ehrfürchtig werden vor diesem tiefgründigen Vermögen, das da in unser geschöpfliches Dasein hineingelegt ist. Ein Hund kann den anderen anbellen und ihm gewiß auch auf diese Weise etwas zu verstehen geben, aber Tiere können nicht miteinander reden. Uns Menschen allein ist dieses Geschenk vor aller Kreatur gegeben als einzigartiges Instrument, auf dem wir den ganzen Reichtum unseres leiblichen, seelischen und geistigen Wesens füreinander entfalten dürfen. In jedem Satz, den wir sprechen, schwingt unsere ganze Leiblichkeit mit. Die Stimme eines gesunden Menschen klingt anders als die Stimme eines kranken Menschen. Die männliche Stimme lautet anders als die weibliche. Der Klang in der Stimme eines Kindes ist so frisch und rein wie der blühende Reiz seines jugendlichen Gesichts. Wir brauchen einen Freund, einen lieben Menschen noch gar nicht gesehen zu haben, er braucht uns noch gar keine besonders gedankentiefen Mitteilungen gemacht zu haben, wie sie für sein Wesen gerade kennzeichnend sind. Wir brauchen bloß aus der Ferne, durch eine verschlossene Türe seine liebe Stimme gehört zu haben und schon grüßt uns in dem sinnhaft gehörten Klang sein Leben, seine Gestalt. Und erst recht redet in unserem Wort unsere ganze Seele. Alles, was wir in uns tragen an Freude und Leid, an Sehnsucht und Begeisterungsfähigkeit, an Leidenschaft und Niedergeschlagenheit, das schwingt wieder im Klang unserer Rede. Es bedarf nicht erst einer besonderen schauspielerischen Sprachausbildung, um den Stürmen unseres Herzens den entsprechenden Ausdruck zu verleihen; nein, diese Mächtigkeit ist jedem von uns ganz unmittelbar gegeben. Wer Ohren hat zu hören, der kann aus dem Mund seines Nächsten ohne viel Mühe vernehmen, ob der Seelenspiegel des anderen ruhig oder stürmisch, rein oder trüb ist. Die höchste und hehrste Kraft des Wortes aber ruht darin, daß es uns durch den sinnhaften Laut und Klang hindurch die Möglichkeit verleiht, Geistig-gedachtes zu gestalten, an andere weiterzugeben und solches Gut von ihnen wiederum zu empfangen. Niemals wüßten wir von dem Du an unserer Seite in Klarheit was es denkt, was es von uns will, niemals könnten wir .junge Menschen zu starkem Wollen und zu reicher Erkenntnis erziehen und führen, wenn wir nicht in der geisteskräftigen Luft gegenseitiger Rede miteinander Austausch halten, könnten. Alle stumme Gebärde und Symbolik in Ehren! Sie mag gelegentlich von ungeheurer, hinreißender Eindrücklichkeit sein in, der profanen wie in der sakralen Welt. Ohne die Deutung, durch das Wort bleibt sie zuletzt immer zweideutig. Der Kuß zweier Liebender kann stärker reden als alle Worte, und doch gedeiht rechte Liebe zuletzt niemals im bloßen Schweigen. Sie bedarf zu ihrer Gründung wie zu ihrer Auferbauung ständig des freimütigen Wortes, das allein erkennen läßt, ob die Herzen zueinander stimmen und es redlich meinen. Alle Gemeinschaft in Ehe und Freundeskreis, in Nachbarschaft und Volk lebt davon, daß man zueinander kommt und miteinander spricht. Wo man das nicht mehr kann, da müssen all' diese edlen Gefüge unrettbar zerbrechen und verderben. Mit einem Menschen kein Wort mehr wechseln, das empfinden wir alle mit Recht als den äußersten Riß der Zertrennung. Alles, was wir haben, kommt von Gott her: jede Kraftbewegung unseres Leibes, jeder freigeschenkte Raum an Lebenszeit, jede künstlerische Begabung, jeder geistige Gedankenflug. Gottes Geist denkt in der Natur, und wir dürfen in unserem Geist diesen seinen Gedanken im Kosmos nachdenken. Gott ist schaffende Kraft, und wir dürfen in Wissenschaft, Kunst und Technik an diesem seinen Schaffen Anteil gewinnen. Gott ist lebendiges Wort, durch das alle Dinge „im Anfang” ihr Sein und Wesen erhalten haben, und auch an diesem lebendigen Wort gibt uns Gott Anteil, indem er mit uns spricht und uns dadurch die Gabe der Sprache gibt und kundmacht, daß wir wiederum mit ihm reden können wie die lieben Kinder mit dem lieben Vater, daß wir als Menschen untereinander Austausch und -Gemeinschaft halten, daß wir einander durch das rechte Wort helfen und dienen können. Aber freilich, so wie alles in dieser Weltwirklichkeit durch unsere Trennung von Gott Schaden gelitten hat, so hat auch das edle Gut des Wortes viel von seinem ursprünglichen Glanz, von seiner ursprünglichen Kraft und Reinheit verloren. Wieviel kalte, harte, seelenlose, lieblose, schmutzige Worte kann man in dieser Welt immer wieder hören! Wieviel bittere, ungerechte, verletzende, unaufrichtige Worte sind schon aus unserem eigenen Mund erklungen! Was Brücke zum Nächsten hin sein sollte, ist in Wahrheit Waffe geworden, die sich brudermörderisch gegen ihn wendet. Ist es darum zuletzt nicht wie ein Gleichnis für unsere ichsüchtige Zertrennung, daß die der Menschheit verliehene Gabe der Sprache auseinandergebrochen ist in eine Fülle der Sprachen, daß kein Volk mehr ganz in die Seele eines anderen Volkes hineinschauen kann, daß unüberbrückbare Schwierigkeiten der inneren und äußeren Verständigung immer wieder an der Verschiedenheit der Sprachgrenzen ausbrechen! Und auch wo unser Wort sich nicht in böser Absicht verletzend gegen einen anderen richtet, gerade da, wo es aus bester Herzensgesinnung und heiligster Verantwortung heraus wirklich aufrufen, aufbauen, raten und führen möchte, wie ist es da oft so matt und ohnmächtig, so unzulänglich und spracharm, wie leiden wir alle als geistige Arbeiter bei unserem Reden und Schreiben immer wieder so bitter schwer darunter, daß uns in entscheidenden Situationen und Beauftragungen das Wort nicht so leicht und reich, nicht so überlegen, vollmächtig und mitreißend zur Verfügung steht, wie es der Ernst und die Größe der Stunde erfordern. So sehen wir überall in unserer Existenz, der die volle Reinheit und Gemeinschaft aus Gott mangelt, krankes Wort, zerbrochenes Wort, kümmerliches Wort, Wort, das verlangt, frei zu werden von Unzulänglichkeit und Schwachheit, Wort, das erlöst werden möchte zu neuer Kraft und Lebendigkeit. Haben wir unsere Gottebenbildlichkeit nicht bewahrt, hat die Trennung von Gott unseren Geist, unser Denken und Sprechen, unser Empfinden, Wollen und Handeln gelähmt und verdorben, dann kann uns auf keine andere Weise davon geholfen werden, als daß sich der unserer Not annimmt, von dem alle gute und alle vollkommene Gabe stammt. Das Neue Testament ist voll von der frohen Verkündigung: Gott hat sich der Menschheit erbarmt, er hat gewaltig in den Lauf der Welt eingegriffen, er hat einen Neuanfang gesetzt zur Wiedergutmachung, zur Erlösung und Vollendung der Schöpfung. Das ist da geschehen, wo in der Geschichte Jesus Christus steht. Aus seinem Mund erklingt göttliches Wort in Vollmacht und Reinheit. Jesus ist kein schweigender Mystiker, kein weltflüchtiger Einsiedler, der seine hohen Gedanken stumm und still für sich behält. Er dient den Menschen in unablässig suchender Liebe mit seinem Wort, und er tut es mit einer so heiligen Gewalt und Größe, daß seine Hörer sich darob entsetzen, weil noch nie einer so zu ihnen geredet hat. Jesus ist ganz reines, ganz lauteres Organ der göttlichen Weisheit und Wahrheit. Weil sein Wille ganz mit Gottes Willen im Gehorsam geeint ist, darum kann er auch wiederum der klare Mund der göttlichen Willenskundgebung an uns werden. Andere haben auch von Gott geredet, aber sie haben es bruchstückartig, unzulänglich, wahnverfangen getan, nicht in Fülle und Herrlichkeit. Die Wahrheit war bei ihnen stets eingewickelt in Unwahrheit, sie hat nicht geleuchtet mit dem überwältigenden Glanz, wie er über der Botschaft Jesu ausgebreitet liegt. Sie haben geredet wie Knechte, die sich widerstrebend anwerben lassen und zur Ausrichtung der ihnen aufgetragenen! Botschaft gezwungen werden müssen. Christus aber redet wie einer, der Sohn ist, der sich in der völligen Einheit mit dem Wollen und Wirken seines Vaters weiß. Was ist der Inhalt dieses fleischgewordenen göttlichen Wortes, das da in Christus zu uns spricht? Es ist ein Dreiklang, der unser Ohr trifft, von dem auch nicht ein Ton weggenommen werden darf, soll nicht alles sofort wieder verdorben und entstellt werden. Gott ruft uns Menschen durch Christus zu: Ihr seid alle auf der verkehrten Bahn, ihr müßt alle von Grund aus umkehren und eine ganz neue Richtung einschlagen, nicht mehr in Anmaßung los von Gott und vom Nächsten, sondern hin zu Gott und hin zum Nächsten! Wer einmal erkannt hat, wie wahr dieses Urteil ist, wie notwendig eine solche Umkehr ist, der wird darüber erschrecken, was denn nun eigentlich werden soll aus der Last unserer Vergangenheit, aus all den Versäumnissen, Verirrungen und Verfehlungen, die doch auch zu unserem Leben gehören und ihm immer wieder seine Gestalt geben. Und wieder trifft uns in dieser Herzensnot das Gotteswort in Christus, unfaßlich groß und gütig, tröstend und aufrichtend: Ihr dürft dennoch Gottes Kinder sein, nichts soll euch von seiner Liebe scheiden können, denn das ist Gottes Art, im Christusleben und Christusleiden abgemalt und uns versiegelt, das Verlorene zu suchen und des Gefallenen sich zu erbarmen. Unser Gedanken- und Fantasieleben wird gereinigt werden. Unsere Leiblichkeit wird in Zucht genommen, unser Willensleben wird gefestigt und gestärkt. Und nicht zuletzt: unser eigenes Wort darf durch den Umgang mit dem Christuswort erlöst werden von seiner Bosheit und Armseligkeit, von seiner Falschheit und Schwachheit zu einem redlichen, reinen und hilfreichen Wort. Es muß uns immer wieder in heiliger Unruhe bewegen, wie eindringlich Jesus und mit ihm das ganze Neue Testament warnt vor dem gedankenlosen, lügenhaften, verletzenden, hart richtenden Wort, wie an die Verantwortung der Ewigkeit mit letztem Ernst erinnert wird, wo ein jeder einmal wird Rechenschaft geben müssen von einem jeglichen Wort, das aus seinem Munde gegangen ist. Was kann ein solches Wort voll Gerichtswucht für uns praktisch anders bedeuten als die Heiligung unseres Wortes in der Furcht Gottes, in der Kraft der Vergebung und Auferstehung, die uns Gott in Christus als lebendige Quelle erschlossen hat! Die Reinheit und Vollmacht unseres persönlichen Wortes, des gesprochenen wie des geschriebenen Wortes, hängt immer davon ab, in welchem Maß das Wort Jesu Christi unser persönliches Eigentum geworden ist. Gereizte Briefe, maßlose Kritik, klatschsüchtige Unterhaltungen, aufgeregte Donnerwetter gegenüber Kindern und Angestellten, schlechte Schulstunden, müde, langweilige Predigten, wirkungslose Vorträge und Vorlesungen, all diese Dinge, die uns und den andern das Leben immer wieder so schwer und enttäuschungsreich machen, haben ihren Grund zuletzt immer darin, daß es uns fehlt an der rechten Nahrungsaufnahme, am „Brot des Lebens”, daß wir am Morgen des Tages nicht zuerst in der Stille des Gebets mit Gott sprechen, ehe wir anfangen, das oft so schwierige Zusammenleben mit unseren Mitmenschen wieder aufzunehmen. Wenn Jesus sein Tun gelegentlich mit dem Tun des Säemanns vergleicht, dann will er uns mit diesem Bild darauf aufmerksam machen: das göttliche Wort, das er auf Erden gebracht hat, muß gleich den Samenkörnlein auf dem Acker tief hinein in unser Inneres dringen und bei uns bleiben, nur so werden wir ein guter Baum, nur so kommt es zu einem wirklichen Fruchttragen des ganzen Menschen und seines Wort-aus dem Geiste Gottes. Das Gottesjahr 1934, S. 43-48 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-11-11 |