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1933
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Die Kirche der Mitte
von Wilhelm Thomas

LeerAls zu Ende des Mittelalters die abendländische Christenheit von völliger Auflösung ihres christlichen Gehaltes bedroht war, wurde sie durch die deutsche Reformation wieder zur Besinnung auf ihre Grundlagen zurückgerufen und dadurch vor dem Verfall bewahrt. Aber diese Reformation geschah um den Preis der Einheit: was als eine Umformung und Erneuerung des Ganzen gemeint war, wurde nur in einem Teil der abendländischen Völker unmittelbar wirksam durch revolutionäre Abschüttelung der päpstlichen (und - in Deutschland - auch der bischöflichen) Gerichtsbarkeit. Das heißt aber nicht, daß andere Teile der Kirche davon unberührt geblieben wären. In der Abwehr der kirchenrevolutionären Gewalten erneuerte sich auch der Teil der Kirche, der unter päpstlicher Obrigkeit blieb. Ja der Gegner zwang hier wie so oft dem Verteidiger die Art des Kampfes auf, und so kann trotz des Risses, der durch die nachreformatorische Christenheit des Abendlandes geht, das ganze Abendland als von der Reformation gewandelt und umgestaltet angesehen werden.

LeerVor allem aber sind die Teile, die sich in wechselseitigem Angriff und wechselseitiger Verteidigung langsam verfestigt haben, bis heute innerlich aufeinander und auf den Gegensatz zueinander angewiesen. Die protestierenden Kirchen, so sehr sie sich (selbst in der Zeit der Staatsherrschaft in geistlichen Dingen) als eigenständige Kirchen fühlten, sind im Grunde Protestaktionen geblieben, und ihr inneres Leben bedarf ständig des Gegensatzes zum römischen Katholizismus, um nicht zu stocken und nicht zu verfallen. Die restaurierte Kirche des Mittelalters aber, die römische Kirche, hat den Impuls der Reformation an keiner Stelle etwa vollkommener ausgenommen als die Protestkirchen, ja sie hat sich an manchen Punkten gegen die notwendige Reform verhärtet, und so lebt auch sie davon, daß sie durch ihren Gegner ständig davor bewahrt wird, in Zustände zurückzuverfallen, die sie seit der Zeit des Mittelalters noch nicht grundsätzlich überwunden hat.

LeerIn dieser Lage, da die abendländischen Kirchen durchaus nicht nur nationale Varietäten der einen Spezies „Kirche” darstellen, sondern zutiefst aufeinander angewiesene Ergänzungsgebilde sind, in dieser Lage scheint die Zukunft des Abendlandes davon abzuhängen, ob die beiden Kirchenparteien den ihnen wechselseitig aufgetragenen Dienst wirklich tun, und das heißt, ob die Tatsache des Bestehens protestierender Kirchen den römischen Katholizismus zu wirklicher Reform vorwärts-, und die Tatsache des Bestehens katholischer Kirchen den Protestantismus zur wahren Katholizität zurückführt. Wir sehen es also als die Aufgabe der einzelnen Kirchen an, ihr isoliertes Eigensein dadurch überflüssig zu machen, daß sie sich jenes Auftrages wirklich entledigen, den sie gegeneinander haben. Ist dem aber so, dann liegt schon heute alles daran, daß es Menschen und Kirchengemeinschaften gibt, die in der Mitte zwischen den Gegensatzpolen stehen und in der Lage sind, Brücken zu schlagen, auf denen die notwendigen Kämpfe ausgefochten und die wechselseitigen Dienste von Kirche zu Kirche geleistet werden können.

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LeerWo sind heute Gruppen, die diesen Mittlerdienst ernsthaft tun können? Die Staatskirche Englands fühlt sich weitgehend dazu berufen. Und in der Tat, hier sind zugleich wesentliche Zusammenhange mit dem mittelalterlichen Kirchentum gewahrt, aus dem alles abendländische Christentum der Gegenwart hervorwächst; hier ist zugleich der Mutterboden für kirchliche Neubildungen von mannigfaltiger Prägung, von den Irvingianern bis zu den Quäkern; hier sind auch durchaus tiefgreifende Verbindungen mit der profan-humanistisch-naturwissenschaftlichen Haltung unserer Tage. Darum ist es gewiß die Erfüllung einer der englischen Kirche erwachsenen Aufgabe, wenn sie an den Bemühungen um ökumenische Bande der Christenheit hervorragend beteiligt ist und dabei sogar wagt, über das Abendland hinauszudenken und die orientalischen Kirchen in ihren Überlegungen mit zu berücksichtigen.

LeerSo wenig dieser anglikanische Auftrag geleugnet oder auf seine Erfüllung verzichtet werden kann, so gilt doch aufs Ganze gesehen auch hier: die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug. Deutschland ist nicht nur der Ursprung des reformatorischen Bruches, sondern es ist - durch die Gegenreformation - auch das Land geworden, durch das dieser Bruch bis heute am schärfsten mitten hindurchgeht; es ist zugleich das Land, in dem die beiden Ersatzkirchen der Neuzeit, der Sozialismus und der Nationalismus, ihre weltanschauliche Grundlegung erfahren haben. Der deutsche Protestantismus ist in besonders hohem Maße in allen seinen Lebensäußerungen von dem Gegensatz zu Rom bestimmt. Der deutsche Katholizismus ist in ähnlicher Weise von dem Gegensatz und Kampf mit dem Protestantismus her gestaltet. Deutschland ist darum schon für sich allein betrachtet, darauf angewiesen, daß nicht nur die Polarität der Gegensätze in ihm verkörpert sei, sondern auch eine Mitte, die in gewissem Sinne über den Gegensätzen steht. Dabei ist es gerade m Deutschland selbstverständlich, daß diese Mitte nicht durch eine seichte Scheinlösung der Gegensätze geschaffen werden darf, weil das nur ein Ausweichen vor der eigentlichen Entscheidung bedeuten würde.

LeerAber nun ist es durchaus begreiflich, daß gerade in Deutschland ein solcher Mittler zwischen den Parteien fehlt. Sämtliche Kirchengebilde Deutschlands stehen eindeutig auf katholischer oder protestantischer Seite. Sämtliche Kirchengebilde leben vom Kampf gegen die andere Kirchenpartei. Keine scheint berufen, einer Aussöhnung dieser Gegensatze dienen zu können.

LeerEs erhebt sich freilich die Frage, ob nicht dennoch derjenigen Kirchengemeinschaft, die unmittelbar aus dem Ursprung der abendländischen Reformation hervorgegangen ist, der lutherischen Kirche, eine solche Mittlerstellung zukommt und aufgetragen ist. Wir erinnern uns, gehört zu haben, daß es im Luthertum Männer gab, die, obwohl in schärfstem Gegensatz zu Rom lebend, im Notfalle das Sakrament aus der Hand des römischen Priesters der Mitfeier bei einer calvinistischen Kommunion vorgezogen hoben. Wir erinnern uns, gehört zu haben, daß dieselben Männer Rom und Genf auf gleicher Gegenseite sich selbst gegenüber gesehen hätten. Das sind sehr unfreundliche Äußerungen eines Bewußtseins, in dem sich gleichwohl das In-die-Mitte-zwischen-die-Gegensätze-gestellt-sein ausspricht. Das Luthertum hat ohne Zweifel zu allen Zeiten einfach durch sein Dasein die Kluft wenn nicht aufgehoben, so doch verengert, die zwischen Katholizismus und Protestantismus befestigt ist.

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LeerFreilich ist das Luthertum in dieser Zwischenstellung auch weithin geistig zerrieben worden; vor allem ist es durch die Aufnahme des Biblizismus und, damit zusammenhängend, durch die Preisgabe der altkirchlichen Verfassung und Gottesdienstordnung durchaus zu einer der Kirchen geworden, die aus sich selbst und nicht aus der gesamtkirchlichen Überlieferung leben wollen. (Der Kern des Irrtums liegt in der Verkennung der Tatsache, daß die Bibel selbst aus der gesamtkirchlichen Überlieferung hervorgegangen ist und nur gewaltsam und willkürlich losgelöst von dieser Überlieferung zu einer Gegenposition gegen die gesamtgeschichtliche Kirche ausgebaut werden kann.) Es sind aber heute Anzeichen einer neuen Lage vorhanden. Haben sich alle Kirchenparteien in ihren Abwehrstellungen festgerannt, so ändert sich das Bild, sobald eine neue Front mächtig wird, der gegenüber man noch nicht festgelegt ist. Die augenblickliche Lage sehen wir dadurch gekennzeichnet, daß das Ende des Individualismus und der Anfang des Kampfes gegen die Bewußtheitsreligion dem Luthertum die Möglichkeit gibt, Grundlage einer Kirche der abendländischen Mitte zu werden, als die es seinen ökumenischen Dienst an Protestantismus und Katholizismus ausrichten kann.

LeerDas Luthertum hatte sich im Lauf der Jahrhunderte aus begründeten Ursachen seiner Entstehungszeit auf einen extremen Individualismus festgelegt und damit in sich selbst langsam alle die Ansätze einer organisch gegliederten Lebensordnung aufgelöst, die ihm ursprünglich eigentümlich gewesen waren. Heute ist die individualistische Entwicklung abgelaufen und das Luthertum kann nicht mehr daran denken, sein anvertrautes Pfund in einem gemeinschaftsfremden Individualismus zu sehen - heute, wo ihm vor allem von den Trägern seiner Heidenmission her (Bruno Gutmann, Christian Kayßer) die Augen dafür geöffnet werden, daß ihm für unsere Stunde ein ganz anderer Auftrag geworden ist: der der Verkündigung und Verwirklichung gliedhafter Verbundenheit, vor allem auf den Schöpfungsgrundlagen der Sippe, des Altersstandes, des Berufsstandes, des Volkstums usw. Damit aber ist eine Gefahr beschworen, die immer wieder gedroht hat: daß sich das Luthertum als Kirche der bloßen Gewissensfreiheit verstehe; damit ist gesichert, daß das Luthertum wirklich Kirche will, trotz aller notwendigen Frontstellung gegenüber heteronomem (fremd-gesetzlichem) Glaubens- und Lebensgehorsam. Deutscher Glaube wird ja auch nach dieser Wendung aus dem Subjektivismus heraus immer den Gewissensernst in sich tragen, der mit dem faustischen Schicksal des Germanen notwendig verknüpft ist.

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LeerEbenso wichtig, aber freilich noch nicht so deutlich offenbar geworden ist die andere Wendung: von der Bewußtheitsreligion zu einer den ganzen Menschen ergreifenden Glaubens- und Kirchengestalt. Trotz Marburg 1529 hat sich das Luthertum weithin als eine intellektuelle Angelegenheit eingerichtet, als eine Sache rational-suprarationaler Erkenntnis, und hat seinen Ruhm in der Bewußtheit der Glaubensentscheidung und des Glaubenszeugnisses gesucht. Es ist deshalb auch den gesteigerten Bewußtheitsfrömmigkeiten des Pietismus und Methodismus so weitgehend zum Opfer gefallen. Die Tatsache, daß im Gefolge der Renaissance eine Glaubenshaltung nötig war, die auch die Bewußtheit des Menschen völlig durchdrang, hat dazu verführt, eine Religion der bloßen Bewußtheit aufzubauen und das ganze unterbewußte Leben des Menschen von der Formung durch den Gottesdienst auszuschließen. Die Predigt, die das Bewußtsein, den bewußten Willen, den bewußten Verstand und das bewußte Gefühl anspricht, ist beherrschend geworden, wie in allen protestantischen Richtungen, so auch im lutherischen Kultus, und nicht das die verborgenen Tiefen der leib-seelischen Menscheneinheit wandelnde Altarsakrament. Wenn sich im Luthertum auch immer wieder Gegenkräfte gegen diese Entwicklung bemerkbar machten, so blieben sie doch ständig auf die Verteidigung des imgrunde verlorenen Postens beschränkt. Heute beginnen wir zu erkennen, daß das Luthertum auf keinen Fall bloße Bewußtseinsreligion sein kann, sondern im vollen Sinn leibhafte Religion sein muß und daß es der Sinn der Tat von 1529 war, die Leibhaftigkeit des religiösen Handelns zu retten mitten in einer Welt, die in Bewußtseinshaltungen und Bewußtseinsakten den Glauben erschöpft sah. Freilich steht an diesem Punkte dem Luthertum noch ein sehr gründliches Umlernen und Sichwandeln bevor: zu tief ist ein Hang zum Spiritualismus von Anfang an in die deutsche Reformation eingedrungen.

LeerDie Wandlung, die hier vom historischen Luthertum gefordert wird, wird ihm vielleicht durch die Einsicht erleichtert, daß auch die römische Kirche an dem gleichen Punkte (wie übrigens auch an dem zuerst genannten des Individualismus) einer ähnlichen Wandlung bedarf, die freilich durchaus schon im Gange ist. Das Benediktinertum hat begonnen, den Jesuiten als eine Kopie protestantisch-humanistischer Bewußtheitsreligion unter römischen Voraussetzungen zu durchschauen. Es hat hier also gemeinsame Front mit dem Luthertum. Als eine Erleichterung für uns haben wir diese Tatsache bezeichnet, wie es ja immer eine Erleichterung bedeutet, wenn sichtbar wird, daß die alten Schützengräben verlassen werden dürfen, weil die Front nunmehr in anderer Richtung verläuft als in den Jahren des Stellungskrieges.

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LeerAuch an der Front gegen den weltlichen Menschen, gegen den säkularen Humanismus, hat deutsches Luthertum einen lange Zeit vernachlässigten Auftrag: in seiner Offenheit für die natürlichen Freuden des Lebens, wie sie die römische Kirche zu Unrecht für sich allein in Anspruch nimmt, muß sie dem „modernen Menschen” verdeutlichen, daß Christentum nicht Moralin bedeutet.

LeerWir würden es nun für verkehrt halten, wenn das Wissen um die Mittelstellung des unindividuellen, unspirituellen, moralinfreien Luthertums dazu führen würbe, daß das Luthertum sich kirchenpolitisch aus dem calvinistisch beeinflußten Kirchenwesen herauszusondern versuchte. Calvin ist ein Vollstrecker lutherischen Willens, an dem bestimmte Schäden an der Stellung Luthers besonders deutlich geworden, von dem freilich auch andere Schäden der deutschen melanchthonianischen Lösung vermieden worden sind. Es handelt sich wirklich um eine Mittelstellung: daß Menschen da seien, die kirchenrechtlich innerhalb des Protestes, also in den Reformationskirchen stehen, die in sich selbst den großen reformatorischen Impuls mit allen seinen Kräften ohne jede Abschwächung verkörpern, und die zugleich ganz und ungehemmt von polemisch-strategischen Rücksichten die Forderung erkennen, die das Noch-immer-dasein katholischer Kirchen für den Protestantismus bedeutet.

LeerWir wissen, daß es heute in Deutschland eine „Hochkirchliche Bewegung” gibt, die sich selbst jene Mittelstellung zuschreibt, die wir dem gesamten Luthertum zumessen. Wir verkennen nicht die Verdienste dieser Gruppe um ein Herauskommen über jenen „konfessionellen Frieden”, der ein Friede der gegenseitigen Isolierung, verbunden mit unfruchtbaren Grenzstreitigkeiten, gewesen ist. Wir empfinden aber die Arbeit der Hochkirchlichen Bewegung und der Evangelisch-katholischen Eucharistischen Gemeinschaft als eine Vorwegnähme des Zieles, die die Erreichung des Zieles bedroht, weil sie das Mitkommen der ganzen Kirchenkörper gefährdet. Wir glauben, daß innerhalb des deutschen Protestantismus auf eine sehr viel weitere Basis hingestrebt werden sollte für eine Kirche der Mitte, die, ohne die reformatorische Linie zu verlassen, doch allen antikatholischen Groll fahren läßt und Luther genau an der Scheide stehen sieht, an der auch wir stehen, nämlich an der Scheide zwischen gesteigerter individualistischer Persönlichkeits-Entscheidungskraft und tiefer, leibhafter, sakramentaler Gläubigkeit. Eine solche Kirche könnte rein durch ihr Dasein den Protestantismus wie den Katholizismus davor bewahren, als Sonderkirchen in dem Sinne zur Ruhe zu kommen, daß sie den Ruf zur Wiedergewinnung der Einheit vergäßen.

Das Gottesjahr 1933, S. 112-118
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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