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von Anna Paulsen |
Der moderne Mensch „ist nur noch ein Sein als Wir”, sagt Jaspers in seiner bekannten, sehr lesenswerten Studie „Die geistige Situation der Gegenwart”. Das Kollektiv lebt, nicht der Einzelne. Ein Hauptkennzeichen dieser Lage: Die Organe der Massenbeeinflussung, Presse, Reklame, Radio sind immer mehr ausgebaut worden. Ganz wissen wir alle nicht, wie sehr wir, auch ohne es zu wollen, Objekte dieser Massenbeeinflussung sind. Meinungen werden schlagwortartig verbreitet, von einem zum andern nachgeredet. Man muß über unendlich vieles eine Meinung haben, weil unser Leben so ausgebreitet worden ist, so in die Weite geht. Es kann soweit kommen, daß man in keinem Punkt mehr ein eigenes Verhältnis hat zur Tiefe der Dinge. Meinungen werden wie Schablonen weitergegeben. Die Konvention, das Herkömmliche, das „Man” beherrscht unsere Welt. Am deutlichsten zeigt sich die Wirkung dieser suggestiven Verbreitung von Meinungen und Schlagwörtern in den Massenbewegungen unserer Gegenwart. Die Millionenzahl der Anhänger ist eigentlich eine Multiplikation des einen Willens, der hinter der Bewegung steht. Sie besteht aus einer Gefolgschaft, in der einer den andern mitzieht durch Meinungen, die er nachredet. Eigene Besinnung und Verantwortung ist nicht erforderlich, ist überhaupt nicht am Platze. Man läßt sich mitwiegen im Strom der ausgepeitschten Empfindungen; die Verantwortung wird abgewälzt auf den Führer. So ist der Einzelne dem Massenwillen hörig. Wenn er dieser Bindung aber entfällt, ist er wieder in sich ungezügelt und ungebunden, weil er keine letzte persönliche Verantwortung kennt. Er setzt sich dann ohne jede Rücksicht durch gegen die andern, kennt keine Verpflichtung ihnen gegenüber. Masse ist einerseits Wir auf Kosten des Ich, andererseits Ich auf Kosten des Wir. Massenbildung hängt zusammen mit dem Gesamtschicksal unserer Zeit; mit dem Arbeitsschicksal - die Arbeit des Einzelnen ist vielfach nur eine unpersönliche Funktion; er kann jederzeit durch einen andern ausgetauscht werden -, mit der Zusammendrängung auf kleinem Raum, mit der Hast und Schnellebigkeit, dem, was man das „Tempo” von heute nennt. Damit ist aber ihr Wesen nicht erschöpft. Masse ist nicht nur äußeres Schicksal, sondern ist auch von innen her bedingt. Der Mensch der Masse ist auf der Flucht vor dem Zu-sich-selbst-kommen, vor der Übernahme der Verantwortung, letzten Endes auf der Flucht vor der Ewigkeit, vor dem Offenbarwerden und Erkanntwerden. Von der Ewigkeit her wird man gestellt, als ein Ich haftbar gemacht; man kann sich nicht verdrücken und hinter einen andern verstecken. In dem Ausweichen vor der letzten Verantwortung liegt die Unwahrheit des Menschen überhaupt. In dem Menschen unserer modernen Massenbildung findet ja nur die letzte Haltung des Menschen überhaupt einen besonderen Ausdruck, eine besondere Darstellungsform. - Wenn es anders werden soll, dann muß der im Strudel mitgerissene Mensch von irgendwoher ein Halt! vernehmen, dem er nicht ausweichen kann, ein Halt!, das ihn aus dem Getriebe und Gedränge zurückruft in die Besinnung. Nur so kann er ein Ich werden, das im Letzten seines Lebens die Verantwortung übernimmt. Gott muß ihm begegnen. Das Verhältnis zu Gott isoliert den Menschen zunächst, denn er wird unausweichlich als ein Einzelner genommen. Unter dem Deckmantel der Konvention - und wieviel Konvention gibt es nicht in unserm Leben, in der Sprache, in der Sitte, in unserm ganzen Sein - kann man sich immer maskieren. Vor Gott dagegen kann man nichts verbergen: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es. Du verstehest meine Gedanken von ferne”, so bekennt der Psalmist angesichts der Ewigkeit Gottes. Es gibt nirgends in der Welt einen so lebenswahren Ausdruck für dieses Alleinwerden vor Gott wie in der Bibel. Im Alten Testament stehen eine Reihe klassischer Berichte darüber von der Abendstunde im Paradies an, wo Gott Adam ruft: „Adam, wo bist du” und er antworten muß, „Hier bin ich”, obschon er lieber in weiteste Fernen fliehen würde, über Abraham und Jakob zu Mose und den Propheten. Hier öffnet sich der Himmel über dem einzelnen, sonst so unwichtig scheinenden, in der Menge verschwindenden, im Alltag verstaubten Menschenleben. Vor diesem Ruf ist man allein, wie auf einer Bergeshöhe, wo noch kein Fußtritt eines andern sich abgezeichnet hat. Und doch ist man eben dadurch in das Wir hineingestellt, nämlich in die Gemeinschaft der Gerufenen, die ecclesia. Man ist allein und ist doch durchaus kein Sonderfall. In der Erklärung zum dritten Artikel bekennen wir mit Luther, daß wir persönlich von Gott gerufen werden und fahren dann fort: „Gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berufet, sammelt, erleuchtet, heiliget”. Der Ruf, das Wort, mit dem sich uns Gott zur Gemeinschaft in seinem Reich anbietet, gilt allen und trifft mich doch in meiner unauswechselbaren Besonderheit. Ein Sich-interessant-nehmen in diesem Stehen vor Gott ist freilich unmöglich. Hier verblaßt alle Erlebniskultur der Romantik oder des Pietismus; hier verstummen alle sentimentalen Klänge. Das Ich sagt, wenn es seinem Verhältnis zu Gott Worte gibt, keine subjektiven Einzelerlebnisse aus, sondern Erfahrungen, die der Kirche gelten; es spricht für alle mit. Das zeigt sich in unsern großen Liedern aus dem 16. Jahrhundert, die meistens auf den Wir-ton gehen: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort...”, „Ein feste Burg ist unser Gott...”. Hier schließt sich das Ich in das Wir ein, während in andern Liedern wiederum das Ich das Wir umfaßt: „Dem Teufel ich gefangen lag...” und „Er sprach zu mir, halt dich an mich, es soll dir itzt gelingen...”- Strophen aus Luthers großem Lied „Nun freut euch, lieben Christen g'mein.” Kirche ruht also auf dem Wort, Gott ist in ihr der Sprechende durch den Mund der Menschen. Das ist ihre Größe und das ist auch das Ärgernis an ihr. Sie wird nicht durch Menschen gebaut. Sie entzieht sich letzten Endes menschlicher Verfügung, menschlicher Berechnung und menschlicher Kunst. Wo sie dies vergißt und sich auf die Macht und suggestive Kraft menschlicher Rede stellt, da gibt sie sich selbst auf. Eine Kirche, die in irgendeinem Sinne auf die Methoden der Massenwirkung unserer Zeit eingeht, hört auf, Kirche zu sein. Sören Kierkegaard, der in einer fast seherischen Weise in seiner Kulturkritik die Lage unserer Zeit vorweggenommen hat, hat einmal den Ausspruch getan: „Die Mitteilung ist wohl bald auf das Niedrigste heruntergebracht in Richtung auf Bedeutungsfülle, und zugleich haben die Mitteilungsmittel wohl ungefähr ein Höchstes erreicht in Richtung auf hastige und alles überschwemmende Ausbreitung.... Das erste, die unbedingte Bedingung, damit etwas getan werden kann, das erste, was getan werden muß, ist: Schaff Schweigen, bring Schweigen an. Gottes Wort kann nicht gehört werden, und soll es, durch lärmende Mittel bedient, lärmend hinausgeschrieen werden, um mitgehört zu werden im Spektakel, so bleibt es nicht Gottes Wort. Schaff Schweigen!” Dies Schweigen ist kein passives Stillsein, kein Einkehren in den eigenen Tiefen, sondern „Hören”. Im Hören bin ich allein, denn Gott redet mich persönlich an. Ich stehe aber in der Kette mit den andern, mit den Gerufenen. Christlich kennen wir das „Ich” nur im „Wir” und das „Wir” andererseits nur, wenn wir zu uns selber gekommen sind. Das Gottesjahr 1933, S. 83-87 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-02-12 |