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von Walter Stökl |
Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß es in Europa fast kein Land gibt ohne deutsche Minderheit und ohne evangelische Diaspora. Ganz besonders ist das der Fall in den Ländern des Ostens und Südostens, „Zwischeneuropa” zwischen Deutschland und Rußland. In allen diesen Staaten sind große deutsche Volksgruppen oder wenigstens zahlreiche kleine Sprachinseln eingestreut, daneben bestehen aber in all diesen Staaten evangelische Diasporakirchen, oft auch nichtdeutschen Volkstums. Volks- und Kirchengrenzen überschneiden sich vielfach bis in die einzelnen Gemeinden hinein. Man vergegenwärtige sich einmal, daß in Polen, Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Rumänien und Südslawien rund 5 Millionen Protestanten unter einer Bevölkerung von etwa 90 Millionen leben, so zerstreut, daß es kaum Gegenden gibt, wo nicht irgendwie der Protestantismus in Austausch und Berührung mit der andersartigen Umwelt des Ostens steht. Diese 5 Millionen Protestanten sind in den 6 genannten Staaten in 19 verschiedene Kirchen gegliedert. Ungefähr 1¾ Millionen sind Deutsche, 1¼ Millionen mögen slawischen Volkstums sein (Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer, Wenden), über 2 Millionen gehören dem madjarischen Volk an. Was bedeutet das, daß diese Kirchen hineingestreut sind in die östliche Welt? Ist damit eine besondere Aufgabe gegeben? Eine besondere Möglichkeit zum Dienst für den gesamten Protestantismus? Wir werden sagen dürfen, daß die deutsche evangelische Kirche durch diese Diasporagruppen in unmittelbarer Berührung mit dem Osten kommt und gegenseitiger lebendiger Austausch möglich wird, nicht nur literarisch-wissenschaftlich, sondern in unmittelbarer Berührung und Einwirkung von Kirche zu Kirche. Verbindungsglieder, Brücken zum Osten sind diese Splitter. Nicht eine mühsam aufrecht zu erhaltende, kleine, in diesem Raum kaum fünfprozentige Minderheit, sondern eine Gruppe, die ihre gottgestellte Aufgabe und Sendung hat zwischen Ost und West. Die Zeit und ihre Not hat diese Kirchen aufgerüttelt und will ihnen die Augen dafür öffnen, daß sie vor einer ungeheueren Aufgabe stehen: die geistigen Schätze der deutschen Reformation anzubieten einer Welt, die sich voll Verlangen öffnet lebendiger Verkündigung und christlicher Lebensgestaltung. Die Völker an der Grenze gegen Osten sind durch die Ereignisse in Rußland erschüttert. Eschatologische Stimmung hat sie ergriffen. Dort ist die Kirchengeschichte noch nicht abgeschlossen, eigenartige Kirchenneubildungen gehen vor sich. Die Ostkirche, die uns so fern und fremd war, ist uns nicht nur durch die ökumenischen Konferenzen unserer Tage näher gerückt, sie tritt auch in lebendige Berührung mit dem Protestantismus und den evangelischen Kirchenkörpern, die eingesprengt sind in ihr Gebiet. In dieser sich wandelnden und gestaltenden Welt des Ostens ist es die erste Aufgabe der Diaspora, selbst Kirche zu werden. Die einzelnen, oft nur ganz lose zusammenhängenden Gemeinden müssen zum Bewußtsein ihrer gliedhaften Zusammengehörigkeit kommen und sich zur Erfüllung ihrer Sendung und ihres besonderen Dienstes fest zusammenschließen. Sie müssen die Gefahr überwinden, in ihrer ärmlichen Einsamkeit sich mit einem geistigen Winkeldasein zu begnügen, und müssen erkennen, daß sie lebendige Zellen eines großen Körpers sind und in die Welt des Ostens gestellt sind als Vorposten mit hartem, im Kampf zu bewährendem Auftrag. Das Kirchewerden im Osten kann nur ausgehen von einzelnen Lebensmittelpunkten. Wie einst in der Zeit der deutschen Ostsiedlung Klöster der Mittelpunkt der Siedlungslandschaften waren, so ist etwa die kleine, nur 35000 Seelen zählende deutsche Kolonistenkirche in Galizien (Kleinpolen) Kirche geworden, weil sie in dem „Bethel des Ostens”, in den Stanislauer Anstalten, nicht nur ein Schwesternhaus, Kinderheim, Pflegestatte für alle Gebrechlichen und Siechen hat, sondern alles, von der Kirchenleitung bis zum kirchlichen Gymnasium, bis zur kirchlichen genossenschaftlichen landwirtschaftlichen Fabrik. Unter einheitlicher Führung ist D. Zöcklers Anstalt Lebensmittelpunkt für die Umgebung über das Deutschtum hinaus geworden für die zerstreuten Gemeinden. Denn in der Gegend von Stanislau hat sich in den letzten Jahren eine eigenartige evangelische Bewegung unter den Ukrainern entwickelt. Eine Reihe von Gemeinden wurde gegründet, evangelische Kirchen gebaut in armen ukrainischen Bauerndörfern, 20 evangelische ukrainische Theologen stehen derzeit in Ausbildung, teils in Neuendettelsau, teils auf dem Predigerseminar in Posen. Um ein deutsches Liebeswerk und eine kleine, schwache Diasporakirche entsteht ein Stück slawischen reformatorischen Kirchentums. Die mit Rom verbundenen ostgalizischen Ukrainer verlangten so stürmisch nach evangelischer Predigt und evangelischem Gottesdienst, daß die kleine deutsche evangelische Diasporakirche sich diesem eigenartigen Auftrag nicht entziehen konnte. Unter den Ukrainern Wolhyniens steht es ähnlich und in der Sowjetukraine gehen trotz allen schweren Druckes der Regierung im Verborgenen ähnliche Strömungen durchs Volk. Damit ist eine schwere Verantwortung der evangelischen Diaspora im Osten auferlegt, vor allem, daß nicht den in Überlieferung und Sitten gebundenen Menschen durch den Protestantismus Auflösung ihrer gehaltenen und geformten Volks- und Kirchenwelt gebracht wird, sondern daß den innerlich erschütterten Menschen die Fülle des Christentums in Wort und Sakrament in einer substanziell christlichen Kirche angeboten wird. Aber ist es nicht auch Kirchewerden, wenn in einer kleinen abgelegenen halb städtischen, halb bäuerlichen Diasporagemeinde der Tschechoslowakei bei der seltenen Bedienung durch einen Pfarrer und den längeren Vakanzen ein Schmied, ein Fabrikant, ein Lehrer und einige Bauern abwechselnd den Gottesdienst halten und das kirchliche Leben besser gedeiht als in manchen von Pfarrern gepflegten Gemeinden? Es ist hoffnungsvoll, wenn eine solche weit zerstreute Schar von 700 Seelen zum Bewußtsein einer verantwortlichen Gemeinde kommt. Weit stärker ist das zu beobachten in Polen, wo die neue Agende für Lesegottesdienste entstanden ist nicht als literarische Arbeit, sondern aus einem praktischen Bedürfnis einer tatsächlich vorhandenen weitgehenden Laienmitarbeit, nicht nur in demokratischen Verwaltungskörpern und den einzelnen Stufen des parlamentarischen Systems gegenwärtiger Kirchenverfassungen, sondern in Kultus, Unterricht und Seelsorge. Diese Männer sind keine Theologen, aber oft mehr priesterliche Seelsorger und sendungsbewußte Verkünder als diese. Es ist auch dem deutschen Gesamtprotestantismus wenig bekannt, daß es einen slawischen Protestantismus gibt und daß im madjarischen Volk der Protestantismus zahlenmäßig stark und politisch wie geistig führend ist. Ebenso ist der politisch regste Teil der Tschechen vielfach evangelisch, ihre großen nationalen Wiedererwecker im 19. Jahrhundert waren evangelisch wie auch der jetzige Staatspräsident. Unter den Slowaken sind 15% meist noch streng kirchlich konservative Lutheraner. Aber auch evangelische Wenden, der Splitter der südslawischen Slowenen auf der Murinsel, Polen und Ukrainer gibt es. Alle zehren von dem Geistesgut der deutschen Reformation, besonders stehn die lutherischen Gruppen der evangelischen Slowaken und Wenden in unmittelbarem Austausch und kirchlicher Verbundenheit mit den deutschen Protestanten. Unter den Slowaken gibt es noch Gemeinden, in denen täglich Gottesdienst gehalten wird, in denen der Bauer zwar keine Zeitung liest, aber seine Bibel, seinen Katechismus und sein Gesangbuch täglich gebraucht. Völlig ungebrochene christliche Volks- und Kirchensitte besteht noch hie und da. Eine Welt, die durch ihre Abgeschlossenheit oder durch ihre Minderheitsstellung vor der zersetzenden Welle des westlichen Rationalismus bewahrt worden ist! Freilich sind auch diese letzten Reste altlutherischer Frömmigkeit bereits bedroht, und das reiche liturgische Leben der Slowaken durch pietistische und amerikanisch-westliche Einflüsse gefährdet. In diesen slawischen protestantischen Kirchenkörpern wird jetzt Diakonie und Missionsarbeit aufgegriffen. Auf der ersten Regionalkonferenz für Innere Mission in Salzerbad (Nied.-Österr.) waren nicht nur deutsche Kirchen vertreten. Noch ist leider der slawische und madjarische Protestantismus stark nach dem Westen gerichtet infolge der politischen Bindungen der Staaten und sucht vielfach noch nicht seine Aufgabe gegenüber der Welt des Ostens. Untereinander haben alle diese Kirchen noch kaum Zusammenhang und Gemeinschaft. Deutsche, slawische und madjarische Kirchengruppen lutherischer oder calvinistischer Prägung stehen sich gleichgiltig, fremd, manchmal fast feindselig gegenüber. Man hat kaum etwas miteinander zu tun, sieht noch kaum das gemeinsame Schicksal und die gemeinsame Aufgabe. Mühsam werden jetzt die ersten Verbindungen geknüpft, viel Mißtrauen ist wegzuräumen. Je mehr die Kirchen aber christlich werden, und aus der Mitte der Offenbarung heraus ihr Leben schöpfen, desto eher werden sie zur Gemeinschaft untereinander finden können. Diese Gemeinden und Kirchen haben, entgegen westlichen Nationalstaatsideen, die für den Osten und Südosten durchaus nicht konstruktiv sind, die besondere Aufgabe, sichtbar zu erweisen, daß die christliche Kirche das beste Gut des Volkstums zur Reife und Erfüllung bringt und mit den Gruppen anderer Prägung und anderer Gaben zugleich verbindet, die auch durch die christliche Botschaft erst zu fruchtbarem Leben gelangen können. Die Bändigung volksgebundener Kirchengruppen vermag in der Vielvölkerwelt des Ostens mit zu erweisen, daß nicht der seine Minderheiten zwangsweise assimilierende Nationalstaat des Westens, sondern nur das Zusammenleben christlicher Völker in größeren politischen Einheiten die östliche Welt ordnen und gestalten kann. Für den Austausch und die Berührung mit dem Osten ist aber am bedeutsamsten die Ostkirche selbst. Ihr gegenüber, die so große Leidensfähigkeit und Widerstandskraft bewiesen hat in diesen Zeiten, gilt das Wort: „Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen sind wir da!” Nicht daß protestantische Missionssekten in die ostkirchlichen, slawischen Volkskörper hineingezwängt werden, stellt eine glückliche Lösung unseres Verhältnisses zum Osten dar, sondern daß im gegenseitigen Austausch protestantische und orthodox-anatolische Kirchen einander dienen. Sind wir in der evangelischen Verkündigung und im diakonischen Dienst, in allem aktiven Angreifen und Gestalten die Gebenden, so empfangen wir ein großes Erbe aus dem Osten, das die anatolische Kirche zu hüten berufen ist. Bischof Irenäus Novisad in Serbien predigte in Cambridge in St. Mary the Great bei der Weltbundkonferenz August 1931 über den Unterschied zwischen der abendländischen und der morgenländischen Kirche: „Ihr habt die Welt christlich gestaltet, wir haben der Welt durch Jahrhunderte hindurch das Beispiel christlichen Leidens gegeben.” Das prägt die Ostkirche bis heute: Leidensfähigkeit, Märtyrerhingabe. In den Kerkern Rigas und Dorpats wurden die Grenzen der Konfessionen überwunden. Es wird berichtet von tiefster Gemeinschaft zwischen den Bekennern beider Kirchen in ihrem Leiden und Sterben. Aber der Reisende im Osten macht die merkwürdige Beobachtung, daß etwa die slawischen Klöster auf dem Balkan, nur die auf dem heiligen Berg Athos einigermaßen ausgenommen, fast öde und verlassen stehen. Große, weite Klöster sind nur von wenigen alten Mönchen bewohnt. Aber auf den Donaudampfern reisen Hunderte von bulgarischen und serbischen Studenten nach dem Westen. Schon durch ihre Gymnasialbildung sind sie meist losgelöst vom Erbgut ihrer Väter und vom Heilsgut ihrer Kirche und einem flachen, imperialistischen Nationalismus verfallen. Dann kommen sie heim von den Universitäten, erfüllt von materialistischer Naturauffassung und dem ganzen Dünkel moderner, fortschrittlicher technischer Welteroberung, und wollen ihre rückständigen Heimatländer „zivilisieren” und dem hohen Kulturstandard des Westens anpassen. Während sich so im Osten die Klöster leeren, sehnen wir uns nach christlichen Gemeinschaftsstätten mit Stille, Andacht, Gebet und Möglichkeit zur Sammlung und inneren Neuausrüstung. Die Ostkirche fragt jetzt lebhaft nach der evangelischen Diakonie, will Nonnen in Diakonissenhäuser senden zur Ausbildung. Die ganz andersartige charitative Betätigung des Westens macht Eindruck. Ob nicht der Austausch der besonderen Gaben des Westens und Ostens für das christliche Gemeinschaftsleben (Klöster, Orden, Bruderschaften) besonders fruchtbar und dienlich werden könnte zum Neuaufbau der Kirchen und ihrer Ausrüstung für die kommenden Kämpfe? Das aktive Element des Westens und das kontemplative des Ostens sind beide wesentlich nötig zur Gestaltung der christlichen Kirche. Das Gottesjahr 1933, S. 77-83 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-02-12 |