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Kirche und Masse
von Ludwig Heitmann

LeerDie Auflösung der organischen Bindungen in das organisierte Massendasein ist in der Westwelt fast vollendet. Der Individualismus hat gesiegt und reift in dem jüngsten Stadium der Entwicklung immer mehr aus zum Kollektivismus, der alle Individuen auf eine Fläche zieht.

LeerWir machen uns selten klar, daß damit die Kirche, insbesondere die evangelische, vor einer völlig neuen Situation sieht. Die natürlichen sozialen Ordnungen, in denen sich ihr Leben abspielte, und auf die sie ihre Verkündigung bis heute abgestellt hat (Katechismus!), sind ihr unter den Händen zerronnen. Viel bedenklicher aber ist, daß ihre Botschaft in einem noch viel tieferen Sinne ins Leere zu stoßen beginnt. Denn sie wendet sich immer noch im Grunde an den ordnungsgebundenen Menschen, an seine sittliche Bestimmung, an sein Gewissen. Aber eben dieser ihr innerster Ansatzpunkt ist erschüttert. Denn es ist gerade das Wesen der Masse, daß in ihr nicht nur die Ordnungen der Schöpfung zerspellt sind, sondern auch das Gewissen im Erlöschen begriffen ist. In dieser Tatsache tritt es klar heraus, daß die ganze Renaissancebewegung im Grunde eine sich stufenweise vollziehende Auflösung des echten Gewissens im reformatorischen Sinne war.

LeerDenn das echte Gewissen ist Bindung an Gott, nicht Bindung an das autonome Sittengesetz, noch viel weniger aber das selbstherrliche Urteil des auf sich selbst zurückgeworfenen Einzelmenschen. Die echte conscientia (gleich: Mit-Wissen) ist im Kollektivmenschen völlig aufgelöst; ihm ist nicht nur die unbedingte Norm, sondern auch die „Selbstverantwortung” verloren gegangen. Massentriebe und Massenüberzeugungen sind das haarscharfe Gegenteil von der echten Stimme des Gewissens. Die durchgreifende Politisierung des Lebens, die das letzte Stadium der Massenentwicklung darstellt, macht diese Ausschaltung des Gewissens besonders deutlich. Denn von ihr wird nun auch der bürgerliche Restbestand, der noch aus der „eigenen Verantwortung” lebte, verschlungen. Die kollektiven Gruppen schicken sich heute an, die bürgerlichen Mittelgruppen des „persönlichen Verantwortungsbewußtseins” aufzusaugen.

LeerDamit ist die Loslösung von der an dem „Gewissen” orientierten reformatorischen Botschaft der Kirche endgültig vollzogen. Allerdings hat die Kirche schon seit langem die Beobachtung machen müssen, daß ihr Appell an das Gewissen nicht mehr durchschlug. Gerade die „verantwortungsbewußten” Pflicht- und Leistungsmenschen haben ihr am fernsten gestanden. Kein Wunder! Denn in ihnen war garnicht mehr das echte Gewissen lebendig, das die reformatorische Botschaft meint. Darum war auch die Sammlung der „verantwortungsbewußten” Gemeindeglieder durch die von „kirchlicher Verantwortung” besonders umgetriebenen Pfarrer ein vergebliches Bemühen. Die solcher Art gesammelten Gemeindekerne sind entweder immer mehr zusammengeschrumpft oder in „verantwortlicher” Betriebsamkeit kirchlich völlig verödet. Es ist heute deutlich, daß dieser Ansatzpunkt für die evangelische Botschaft nicht mehr echt ist und darum nicht mehr Stich hält.

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LeerBedeutet dies das Ende der evangelischen Kirche, der Kirche des Gewissens, der Kirche des allgemeinen Priestertums? Ist die Masse, ist der kollektive Mensch der Tod der evangelischen Gewissensbindung? Es könnte so scheinen, daß mit der Auflösung der schöpfungsmäßigen Ordnungen und der echten Gewissensbindung auch der evangelischen Kirche das Rückgrat gebrochen sei - wenn uns nicht je länger desto mehr die Frage zu schaffen machte, ob der Hinweis auf die Schöpfungsordnung und der Appell an das zur moralischen Hülse entleerte Gewissen wirklich der entscheidende Ansatzpunkt für die evangelische Botschaft sei, ob nicht vielmehr durch die Botschaft selber das echte Gewissen neu gesetzt und eine neue Ordnung stabilisiert werde. Und dahinter wartet die andere Frage, ob nicht in der Massenentwicklung eine Vorbereitung gegeben sei für ein neues „Mit-Wissen”, und ob nicht gerade in dieses kollektive „Mit-Wissen”, das ja zunächst allen dämonischen Mächten der Tiefe offen ist, auch der Funke des von Gott gesetzten neuen Gewissens hineinschlagen könne. Liegen im kollektiven Menschen nicht beide Möglichkeiten, die des Absinkens in die dämonischen Tiefenmächte und die des Herausgerufenwerdens in eine neue Lebensschöpfung?

LeerUns geht heute das Auge wieder dafür auf, daß die ecclesia, die Schar der Herausgerufenen, von ihrem Ursprung her in einem Verhältnis zur Masse stand. Der Hintergrund des ganzen Neuen Testaments ist eine immer tiefer in das Massendasein hinabsinkende Kultur. Nirgends findest sich das Todesschicksal der Masse so erschütternd geschildert wie in den Paulus-Briefen (z. B. Römer 1). Die herausgerufene Gemeinde steht in ganz bewußtem Gegensatz zu dieser sich zersetzenden Welt des „Fleisches”. Das neue „Volk Gottes” tritt an die Stelle des in die Verlorenheit des Massendaseins hinabgesunkenen Volkes im natürlichen Sinne.

LeerWir fangen an, wieder den ganz naturhaften Hintergrund etwa jenes Paulus-Wortes zu begreifen: „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christus.” Die neue Schöpfung, die in Christus geschehen ist, tritt hinein in eine zerstörte Schöpfung mit zerbrochenen Ordnungen und schafft im „Gesetz des Geistes” eine ganz neue Lebensordnung, die allerdings in die Zukunft weist; wie denn die neue Schöpfung ja ganz eschatologischen Charakter trägt, aber doch schon in der gegenwärtigen Gemeinde vorlaufende Gestalt gewinnt, und zwar in neu erweckter Gliedhaftigkeit (1. Korinther 12).

LeerIn dieser Gemeinde ist das „Gewissen” lebendig, aber das ist alles andere als ein moralisches Verantwortungsbewußtsein einzelner Menschen, vielmehr ein Wissen um die unverbrüchliche Bindung an die neue Christus-Wirklichkeit, die als neue Schöpfung in die dem Untergang verfallene alte Schöpfung hineinwirkt. Es ist ein kosmischer Kampf, der sich zwischen den Mächten der Tiefe und der Lebensmacht der neuen Schöpfung abspielt, in den die Gemeinde mitten hineingestellt ist. Daß sie darum weiß, das ist ihr Gewissen.

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LeerWir wissen heute längst, daß in der Gegenwart der entscheidende Kampf sich nicht mehr im selbst-verantwortlichen Individuum vollzieht, sondern daß jeder Einzelne hineingezogen ist in Entscheidungen, die weit über sein persönliches Dasein hinausgreifen. In diesem Sinne sind wir alle zu kollektiv gebundenen Menschen geworden. In den Tiefenschichten des Lebens bricht heute der Kampf auf, um den es in der Erlösungsbotschaft geht. Zorn und Verheißung Gottes wirken sich aus im Massenleben, dem die Welt verfallen ist. In ihm scheiden sich die Kinder des Tages von den Kindern der Nacht. Aus diesem Kampf steigt neue Entscheidung und darum ganz neue und tiefer greifende Verantwortung auf, die ganz anderer Art ist als die moralische Verantwortung des sein Leben in Freiheit gestaltenden Menschen. Das Ringen um die persönliche Lebenserfüllung, um die Seligkeit der einzelnen Seele, ist längst vom Massenschicksal überflutet und hineingezogen in letzte Weltentscheidung, in die Grundentscheidung zwischen Tod und Leben im letzten und umfassendsten Sinne, zwischen der verlorenen und der geretteten Schöpfung. Sie schlägt hinein in den persönlichsten Innenpunkt jedes einzelnen Herausgerufenen, in ihr entscheidet sich aber viel mehr als das Schicksal des einzelnen Menschen.

LeerHier wird in einem ganz neuen Sinne Kirche sichtbar, nicht als die zufällig zusammengeführte Schar einzelner Gläubiger, sondern als Trägerin der Verheißung einer neuen Schöpfung, als ein von Gott geschaffenes neues Kollektivwesen, als der Leib Christi, in dem die Auferstehungshoffnung für die verlorene Welt Wirklichkeit geworden ist. Die Dämonen der Tiefe und Christus, der sie überwand, treten im Hintergrund des Massenlebens einander wieder gegenüber. Der magische Raum der Tiefe ist wieder erschlossen, und über ihm wird sichtbar der pneumatische Raum der von Gott Herausgerufenen. Aus dem Hintergrunde bricht beides, das Tier aus dem Abgrund und der Überwinder des Todes, der das Grab sprengte. Christus, der Weltrichter, tritt wieder auf den Plan.

LeerEs ist deutlich, daß die Kirche hier vor einer völlig neuen Situation sieht. „Kirche und Masse” ist heute ihre Schicksalsfrage geworden. Wir werden uns dabei ganz frei machen müssen von der Vorstellung, als ob die Masse das Kennzeichen einer besonderen Schicht, etwa der proletarischen, sei. Masse ist der Ausdruck unserer Gesamtlage. Sie ist das Endstadium der rational durchgestalteten Welt; in ihr zerbricht der Panzer der ratio und der Technik; sie gibt den Weg wieder frei in die hintergründigen Lebensmächte, die um die letzte Entscheidung kämpfen. In sie tritt wieder die Kirche hinein, nicht etwa als Trägerin einer rationalen Botschaft, sondern als substantielle Wirklichkeit einer neuen Schöpfung, die die Urgegensätze des Weltgeschehens im ganzen aufreißt. Ihre Lebensformen werden sich grundsätzlich ändern müssen gegenüber der Epoche, die hinter uns liegt.

LeerAn die Stelle ihrer rational zersetzten Lehre, die schließlich in lauter Einzelprobleme zerfloß oder zur Systematik erstarrte, muß wieder treten ureinfach geformte Wahrheit, das Dogma im echten und ursprünglichen Sinne: nicht als versteinerte rationale Wahrheit, sondern als die das Ganze des Lebens gleichnishaft überwölbende Formung der ewigen Botschaft; nicht begründet durch rationale Erwägungen, sondern alle ratio selbst erst begründend; im ewigen Geheimnis wurzelnd und zugleich doch in die offenbare Klarheit drängend. Was das geformte Bekenntnis der alten Kirche wollte, beginnt uns langsam wieder aufzugehen.

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LeerAn die Stelle der sich in Zeitfragen erschöpfenden Verkündigung wird treten auf der einen Seite die streng liturgische Formung des „Wortes”, auf der anderen Seite die auf die Grundentscheidung drängende aktuelle Botschaft: Evangelisation im ursprünglichen Sinne, die nicht der pietistisch-methodistische Appell an die Kräfte des Willens, des Gemütes oder des Verstandes im einzelnen ist, sondern der objektiv klare Aufriß des Urgegensatzes und darum der Weckruf zur Entscheidung, der in die Masse schlägt.

LeerDer Kultus und der Kultusraum werden wieder die monumentale Formung finden müssen, die bis in die letzte Wortung, Haltung und Linienführung Gleichnis der verheißenen neuen Schöpfung sind, so daß durch sie das Massenleben erlösend aufgerufen, gesammelt, geformt, ausgerichtet wird auf den kommenden Christus. Die objektiven Formen der Liturgie, des Gebetes, des Chorals werden wieder grundlegende Bedeutung gewinnen.

LeerIn demselben Maße, wie die Dimension der Tiefe wieder aufbricht im Massenleben, wird auch das Sakrament wieder verstanden werden als der Träger der realen Lebensmacht Christi.

LeerDas wird sich durchaus nicht sofort im Großen vollziehen, sondern in ganz kleiner Zellbildung mitten im Massendasein, so wie sich Strandhafer in den lockeren Ufersand bohrt und ihn langsam wieder in gehaltenes Erdreich verwandelt. Die neue Lebensordnung wird immer im Todeskampfe stehen gegen die Mächte der Auflösung um sie herum; sie wird immer nur Hinweis sein können ans die verheißene Welt der Auferstehung. Und dennoch wird die Gemeinde wieder leibhafte Wirklichkeit sein, Hinweis auf das corpus Christi, dessen geheimnisvolle Lebensmacht sie hineinträgt in das verlorene Massendasein. In der neuen Gliedhaftigkeit der so „Herausgerufenen” wird neue conscientia Dei, echtes „Mit-Wissen” mit Gott und seiner ganzen Schöpfung in die Welt hineintreten. Der missionarische Charakter der Gemeinde wird in allen ihren Lebensäußerungen, vom Kultus bis zur Caritas, lebendig sein.

LeerDiese Umstellung der Kirche ist in den grundlegenden Anfängen längst vorhanden. In dem Ringen um das echte „Wort”, in der Wiederentdeckung des Sakraments, in der neuen objektiven Haltung der liturgischen Gestaltung und der äußeren Formung gemeindlichen Lebens stellt sich die Kirche längst um auf die neue Situation, in die sie die Massenentwicklung hineingeführt hat. Längst hat auch die protestantische Kirche ihr Auge aus die Kirchenformen gerichtet, die ganz wesentliche Traditionen der alten am Massendasein orientierten Kirche uns aufbewahrt haben, besonders auf die Ostkirche. Auch von dort her wird sich aus den neuen Aufgaben heraus, die die im Osten ganz neu erwachende Massenentwicklung der Kirche stellt, der Blick auf die der protestantischen Kirche geschenkten Erkenntnisse und Formen nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Gestaltung wenden müssen. Über der Massenentwicklung der Völker leuchtet die Verheißung der Una Sancta.

Das Gottesjahr 1933, S. 62-67
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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