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Das Ennteh
von Wilhelm Stählin

LeerDie Studenten der Theologie sind fleißig. Sicherlich sind sie noch fleißiger, als wir vor einem Menschenalter gewesen sind. Es wird weniger gebummelt; wir haben uns über Mangel an Eifer gewiß nicht zu beklagen.

LeerWer fleißig ist, will die Zeit auskaufen. Er weiß, daß er keine Stunde versäumen darf, und jede Minute ist kostbar. Rationalisierung ist Pflicht; sie organisiert und vereinfacht den Arbeitsprozeß und wehrt der Vergeudung von Zeit und Kraft. Auch die Sprache muß es sich gefallen lassen, daß ihre zeitraubende Umständlichkeit durch technische Mittel „verknappt” wird. Es ist praktisch, für die langwierigen Ausdrücke, die der arme Theologe immer wieder im Munde führen muß, zweckmäßige Abkürzungen zu gebrauchen. Damit nimmt endlich auch die so oft rückständige Theologie teil an dem brausenden Rhythmus der Zeit und ersetzt ihre altmodische Feierlichkeit durch das Tempo des laufenden Bandes. Diese Theologen, die endlich den Anschluß an das Zeitgeschehen gefunden haben, haben keine Zeit mehr einen so langen und schwierigen Ausdruck wie „Das Neue Testament” zu gebrauchen - und wie oft müßten sie ihn gebrauchen! - sondern sie reden vom Ennteh und vom Ahteh.

LeerWelcher Fortschritt und welche Verantwortung für gewissenhafte Zeitausnützung drückt sich in diesen Sprachschöpfungen aus! Man kann ausrechnen - jeder Leser kann sich davon überzeugen! - daß man in einer Minute gegen 100 mal aussprechen kann „Ennteh”, aber nur gegen 70 mal „Neues Testament”. Die konsequente Verwendung solcher Abkürzungen würde also eine Zeitersparnis von 30 Prozent bedeuten. Auf allen Gebieten durchgeführt würde also solche Rationalisierung der Sprache die Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit der im Dienst der Kirche stehenden Theologen um mindestens 20 Prozent steigern, und die notwendige Intensivierung der kirchlichen Arbeit würde ohne Arbeitsvermehrung (wer wollte das fordern?), sondern einfach durch technische Arbeitsvereinfachung erreicht.

LeerNatürlich werden sich solche Erwartungen nur erfüllen, wenn dieses Prinzip zweckmäßiger Abkürzung nicht auf diesen ersten Versuch beschränkt bleibt, sondern konsequent auf alle dafür geeigneten Wortgruppen angewendet wird. In sehr vielen Fällen ließe sich die Zahl von 4 oder 5 Silben auf 2 reduzieren und damit eine Ersparnis von mindestens 50 Prozent erzielen. Ich schlage vor, regelmäßig statt vom heiligen Geist vom „Hageh” zu reden und überall den Glauben an „Jotzeh” zu bekennen; ist ein Mißverständnis darüber möglich, wer gemeint ist? Wie viele Zeit könnte für andere Leistungen frei werden, wenn wir uns angewöhnten, auch im Unterricht regelmäßig vom „Vau-u” oder noch kürzer vom „Vu” zu reden! Es bietet sich eine Fülle weiterer Möglichkeiten. Man kann „Has” für Heilige Schrift, „Sonat” für Sonntag nach Trinitatis sagen. Es stehen beliebig viele weitere Beispiele zur Verfügung. Nur die große Zahl solcher Abkürzungen wird eine rationelle Ausbeutung dieser Erfindung gewährleisten. Es lebe die Rationalisierung! Es lebe der fleißige Theologe, der seine Zeit auskauft.

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LeerAber ist dieser Unfug nicht eigentlich doch zu schlimm und zu ernst, als daß man es sich erlauben dürfte, ihm mit harmlosem Spott zu leibe zu rücken? Denn was ist hier geschehen? Wir haben uns mit einigem Recht daran gewöhnt, in wissenschaftlichen Druckwerken, wo es auf äußerste Sparsamkeit des Raumes und damit auch des Preises ankommt, bestimmte Abkürzungen zu verwenden, die jeder Fachgenosse versteht, AT, NT, RG (Reich Gottes), KG (Kirchengeschichte) und wie sie alle heißen mögen. Aber diese Abkürzungen in das gesprochene Lautbild zu übertragen, ist zunächst einmal eine ganz unverzeihliche Barbarei gegen den Geist der Sprache. Es entstehen dadurch fast ausnahmslos scheinbare Wörter, deren Lautbild dem natürlichen Rhythmus unserer Sprache völlig wesensfremd ist. Es ist freilich noch ein gewisser Unterschied, ob einfach die Anfangsbuchstaben zusammen gelesen werden, oder ob sie durch die Hinzunahme der Vokale zu einem künstlichen neuen Wortbild verbunden werden, ob wir also von CVJM und DCSV oder von der Hika (Hilfskasse) reden. Aber der Unterschied ist doch mehr scheinbar als wirklich; denn das Lautbild, und darauf allein kommt es an, ist in beiden Fällen dem Rhythmus deutscher Wortbildung wesensfremd.

LeerWir haben uns freilich auf allen Gebieten des Lebens an diese aus Anfangsbuchstaben zusammengesetzten Wort-Ungeheuer so sehr gewöhnt, daß wir kaum noch empfinden, wie sehr wir damit jedem Gefühl für die Bildungs- und Wachstumsgesetze unserer Sprache ins Gesteht schlagen. Wir reden von Ila (Internationale Luftschiffahrts-Ausstellung) und Kajulai (Kathol. Jugend- und Laienbühne), von Ama (Ausschuß für Mädchenarbeit) und von dem (!) Dinta (Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung), von der Müdro (Münsterische Drogistenseife) und wie solche Abkürzungen alle heißen mögen, und spüren kaum mehr, daß solche Wortbildungen nach den Gesetzen des deutschen Sprachrhythmus nicht möglich sind. Gewiß, in der Reklame mögen solche technischen Wortbildungen, gerade, weil sie geheimnisvoll fremdländisch klingen, besonders geeignet sein, das für alles Undeutsche voreingenommene deutsche Gemüt zu betören. Selten genug ereilt einmal einen solchen Namen das verdiente Schicksal, der allgemeinen Verachtung preisgegeben zu werden, wie der Name Devaheim, in dem sogar das Wort „evangelisch” sein sehr verborgenes Dasein fristen soll; und noch seltener gelingt einmal ein Wort, das an sich in der deutschen Sprache möglich wäre, wie bei der Gesolei unseligen Andenkens, an der wirklich der Name noch das Beste war.

LeerWir beobachten auf allen Gebieten mit Schmerz und Scham, wie sehr die Kultur der deutschen Sprache durch allerlei schlechte Angewohnheiten, allerlei Sprachdummheiten verdorben und abgestumpft wird. Wer der Meinung ist, daß man mit einer Sprache nicht Schindluder treiben darf, sondern ehrfürchtig ihren Gesetzen nachspüren soll, und daß das feine und unbestechliche Gefühl für sprachliche Ordnung mit der Sauberkeit des Denkens aufs Tiefste zusammenhängt, der wird diese häßliche Mode willkürlicher Wortschöpfungen mit aller Schärfe als Versündigung gegen das uns anvertraute Erbe der Muttersprache brandmarken und bekämpfen. Er wird aber vor allem sehr energisch verlangen, daß die kirchliche Sprache von diesem gedankenlosen Unfug freigehalten, oder vielmehr wieder gesäubert werde. Laß die Angelsachsen von Wymka (Young Men Christian Association) reden; laß sie mit ihrer Sprache machen, was sie für richtig halten. Wir haben noch Zeit und ziehen es vor, die Dinge „bei ihrem Namen” zu nennen und also vom Männerdienst statt vom Mädi und vom Kirchenbund statt vom Kibu zu reden.

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LeerJa, ich meine, wir hätten als evangelische Theologen ein besonderes Maß von Verpflichtung und Verantwortung dafür, daß die Sprache nicht mißhandelt wird, und wir sollten diese Verantwortung vor allem darin zeigen, daß wir auf unserem eigenen Arbeitsgebiet diesen Unfug entschlossen nicht mitmachen. Gehört nicht die Sprache zu den Schöpfungsordnungen, die unserem willkürlichen Eingriff entzogen sind und an denen wir in Gehorsam und Bescheidung einen Dienst zu leisten haben? Ist es nicht eine letzte, sehr böse Auswirkung des Spiritualismus, wenn wir, wie alle leibliche Wirklichkeit, so auch den Sprachleib für eine belanglose Äußerlichkeit halten, mit der man machen kann, was man will?

LeerIst es nicht einfach ein Mangel an Ehrfurcht vor dem Gewachsenen und Lebendigen, wenn wir den gewachsenen Sprachleib verachten und mit unseren häßlichen künstlichen Lautbildern schänden, genau so wie wenn der Prediger alle Gesetze der Stimmbildung und der Sprachtechnik souverän verachtet, weil es angeblich ja doch nur auf den Inhalt ankomme? Ich habe nur Spott und Zorn übrig für Theologen, die mit großer Leidenschaft ihre „Theologie des Wortes” gegen jede angebliche Bedrohung verfechten, und die dann durch den gedankenlosen Gebrauch solcher Abkürzungen, wie Ennteh, verraten, daß sie keine Ahnung vom Wesen des Wortes und keine Ehrfurcht vor der Sprache haben.

LeerDie Sache hat aber einen letzten sehr ernsten Hintergrund. Es ist nicht ein überwundener Aberglaube primitiver Menschen, sondern eine ganz tiefe Erkenntnis, daß die Dinge selbst eben das für uns sind, als was wir sie benennen, und daß sich mit dem Namen die Sache selbst verändert. Es ist - um zum Ausgangspunkt zurückzukehren - nicht nur eine geschmacklose und gefährliche Sprachdummheit vom Ennteh statt vom Neuen Testament zu reden, sondern das Ennteh ist etwas anderes als das Neue Testament! Indem wir eine Sache mit einem technisch zweckmäßig konstruierten Namen bezeichnen, machen wir sie zu einem Gegenstand unserer verstandesmäßigen „Behandlung” und Erörterung. Das Ennteh kann ich studieren, aber nur aus dem Neuen Testament kann ich verkündigen.

LeerIch kann ein ahtehliches Seminar besuchen, aber die Weissagungen stehen im Alten Testament. Ich kann ein Kolleg über Kageh I hören, aber Erkenntnis gewinne ich nur aus der Kirchengeschichte der alten Kirche. Durch solche Abkürzungen mache ich alles zum Jagdgrund meiner (sehr nötigen) Verstandesarbeit; aber ich verberge mir das Wesen der Dinge. Drückt nicht der technische Name das ganze hochfahrende Herrschergefühl des technischen Menschen „seiner” Sache gegenüber aus: Das habe ich, das kenne ich, das beherrsche ich; das Ennteh habe ich jetzt „durch”! Ist es zuviel gesagt: es wachsen junge Theologen heran, die kennen die Kageh, aber nicht die Geschichte der christlichen Kirche; sie kennen das Ennteh, aber nicht das Neue Testament!

LeerAber wir verhungern und verdursten mit dem Ennteh. Eine Kirche, die nur ein Ahteh und ein Ennteh hat, ist eine belanglose Sache. Spüren vielleicht manche unserer Laien mit innerster Sorge, daß viele Theologen unserer Kirche wohl ein Ennteh haben, aber nicht das Neue Testament unseres Herrn und Heilands Jesu Christi?

Das Gottesjahr 1933, S. 52-56
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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