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Die verweltlichte Kirche
von Walter Stökl

LeerIn dem Zukunftsroman „Athanasius kommt in die Großstadt” wird eine moderne Millionenstadt in höchster technischer Vollendung geschildert, in der es keine christliche Kirche mehr gibt, wo nur mehr eine humanitäre Sekte der „Christianer” als letzte Erinnerung vorhanden ist. Wenn man dieses Buch liest, spürt man mit Erschrecken, wie sehr hier im Grunde nur in der gegenwärtigen wirklichen Lage bereits vorhandene Wesenszüge der Zeit weiter ausgeführt sind. Die Kirche ist kaum viel mehr als ein Museumsstück, das Christentum liegt so fern ab von allem Streben und Wollen des Gegenwartsmenschen, daß er es vielfach nicht einmal mehr bekämpft. Aber auch der junge Mensch, der mit glühender Begeisterung ein neues Reich mitbauen will, läßt die Kirche beiseite liegen. Sollte sie die Kraft haben zur revolutionären Erneuerung des Volkes?

LeerWenn der Mensch unserer Tage sein Leben bauen will und baut ohne die Kirche zu beachten, liegt diese Gleichgültigkeit nur an einem schuldhaften Versäumnis des Gegenwartsmenschen, oder ist sie vielmehr in dem eigensten Zustand der Kirche begründet? Sie tritt ihm nicht mehr in einer ihr eigentümlichen Gestalt entgegen, die Hingabe und Gehorsam fordert oder bittere Feindschaft weckt; die Kirche in ihrer ganzen Lebensformung ist selbst Welt geworden. Was soll man von ihr erwarten, die doch dasselbe ist wie alles gottgelöste, chaotische Leben unserer Tage, nur verbrämt mit einer religiösen Phraseologie vergangener Tage? Muß man erst suchen nach Beispielen für diese Eroberung der Kirche durch die Welt?

LeerEvangelische Kirchen öffnen sich nur für eine Stunde am Sonntag, sonst sind sie fast immer zugeschlossen. Man kann aber den Küster finden, wenn man Glück hat. Der zeigt einem die Kirche, wenn an ihr etwas Sehenswertes vorhanden ist, man darf darin herumgehen, man gibt dann ein Trinkgeld. Sollte der Protestant in der Kirche beten wollen, in der Stille sein wollen? Wenn du in der Lutherstadt Wittenberg in eine stille, schlichte Kirche gehen willst, um zu beten, dann mußt du in das römisch-katholische Diasporakirchlein gehen. Die ehrwürdigen Lutherkirchen darfst du um ein gut Stück Geld „besichtigen”. Öffnet die Kirchen! so wird jetzt in mancher Gegend von oben herab verordnet. Ein Kirchenvorstand hat bei seiner Kirchenleitung zurückgefragt, was man denn eigentlich mit offenen Kirchen anfangen sollte. Längst sind die täglichen Gottesdienste der evangelischen Kirchen verstummt. Immer mehr Gottesdienste und Feiertage hat man abgebaut, bis schließlich die Sonntagspredigt übrig geblieben ist. Dafür aber hat man im Gemeindehaus neben der Kirche (oder im Gasthaus) einen großartigen Vereinsbetrieb aufgemacht. Man hält Familienabende, man zeigt Bilder und Filme, man tut alles, was die anderen auch können; wer spürt in der Kirche das, was die andern alle nicht können und nicht haben?

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LeerGlocken auf Türmen! Aber sie läuten nicht. Was stören sie noch Fabriksirenen und Autohupen mit ihrem Klang? Man hat in Freidenkerkreisen die Stimme erhoben gegen die Belästigung der Öffentlichkeit durch den unangenehmen Lärm der Kirchenglocken. In Rußland verstummen die Glocken, ein Land ohne Glocken. Aber bei uns verstummen sie freiwillig. Daß Glocken zum Morgen-, Mittag- und Abendgebet läuten, wer weiß das noch? Wenn nebenan die Pfarrkonferenz tagt, muß sie während des Läutens lauter reden, damit kein Wort der Diskussion von dem Glockenklang verschlungen wird. Es gibt noch evangelische Kirchen, die Freitag um drei Uhr zur Scheidestunde Christi läuten und am „Sonnabend” den Sonntag einläuten; aber wie viele nehmen Anteil an dem, was dieses Läuten bedeutet? Wenn ein Pfarrer das Vaterunserläuten wieder einführen will, damit die ganze Dorfgemeinde im Umkreis um ihre Kirche, die Kranken und Alten zu Hanse, das Vaterunser in geistiger Gemeinschaft zusammen beten, lehnt es vielleicht der Kirchenvorstand ab, weil es „katholisch” sei.

LeerEin Erlebnis an einem Sommerabend in einem stillen Gebirgsdorf: Die Glocken läuten zum Abendgebet. Freudig und bewegt will der Wanderer innerlich mitbeten im Weiterschreiten in den Abend hinein. Aber gleich hinter der Kirche kauert ein Bauernbursche mit seinem Grammophon und läßt Schallplatten mit öden Schlagern in das Abendläuten hineintönen... Es ist dunkel geworden. Auf dem Weg ein Karren mit Futter und im Dunkel steht ein Mädchen von etwa acht Jahren, hat die Hände gefaltet und betet. Ist sie evangelisch, ist sie katholisch? Sie jedenfalls vernahm etwas von der Sprache der Glocken. Aber neben der Kirche ist ein evangelisches Jugendheim. Vor der Tür des Heimes, wo die evangelischen Jugendbünde des Landes gerade tagen, fliegt dem Wanderer ein Fußball entgegen und von drinnen ertönt lautes Lärmen und Lachen. Drei Pfarrer sitzen drinnen, fünfzig junge evangelische Leute, und niemand hört die Abendglocke.

LeerEs gibt evangelische Pfarrkirchen, m denen nur ein einziges Mal im Jahr, nur mehr in der Karwoche das heilige Abendmahl ausgeteilt wird. Was haben auch die „Vereine für evangelische Weltanschauung” mit ihrem demokratischen Verfassungswesen und durch Staatsbehörden geschützten Vereinsbeiträgen und ihren Vortragsveranstaltungen für das Predigtpublikum zu tun mit der Gemeinde Jesu Christi, die an jedem Herrentag miteinander in brüderlicher Gemeinschaft und in gewisser Erwartung des kommenden Herren das Herrenmahl feiert? In der Reformationszeit war es Ausnahme, daß das heilige Mahl einmal nicht gefeiert wurde; heute ist es eine Merkwürdigkeit der Karwoche, mit der die Gemeindeglieder im Grund nicht mehr viel anzufangen wissen. Es ist gewissermaßen eine Demonstration des evangelischen Bekenntnisses, an der man teilnimmt, wie etwa umgekehrt die Fronleichnamsprozession bei den römischen Katholiken.

LeerUnsere Kirchen haben einen „Tisch des Herren”, den „erhöhten Tisch” für das heilige Mahl, die „mensa altaris”. Aber man kann es erleben, daß mitten im Kirchenraum beim Gottesdienst ein Sitzungstisch, mit grünem Tuch bezogen, steht. Unmittelbar nach dem Gottesdienst, oft in ihn hlneingeordnet, beginnen die Verhandlungen. Man ist stolz, daß man nicht so rückständig ist, die Kirche noch als sakralen Bau anzusehen. Sie ist ein sehr geeigneter Raum für Gemeindeversammlungen und Sitzungen ihrer Herren. Warum baut man noch Kirchen? Versammlungshäuser mit allen nötigen Räumen sind besserer Ausdruck für den Betrieb einer wohlaufgezogenen evangelischen Gemeinde.(1)

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LeerDie „Sakristei” sollte ihrem Namen nach dem „Heiligen” dienen. Eine Sakristei einer Begräbniskirche, in der täglich mehrere Pfarrer sich bereiten zum schweren Dienst, Tote zu Grabe zu geleiten und hier das Evangelium zu verkünden; ihre Einrichtung besteht aus einem Spiegel, einem Tisch und einem Stuhl und einem Glas Wasser für den „Redner”. Kein Bild, das sammelt, kein Buch, das beten hilft, kein Zeichen, das mahnt, natürlich auch keine Betbank. - Und die Sakristei einer alten Kirche aus dem 13. Jahrhundert; einst eine wunderbare gotische Tauf- und Beichtkapelle. Heute ist sie in zwei Teile geteilt; die eine Hälfte ist Gerümpelkammer, die andere, die eigentliche Sakristei, ist elektrische Schaltkammer für Kirchenheizung und -beleuchtung geworden. Dazwischen ein alter Altar, der merkwürdig sinnlos in dem Raum dasteht. Wie nötig wäre der stille kleine Raum für tägliche Andachten und Gebet in der Großstadt. Aber im dritten Stock des Gemeindehauses daneben ist ja ein Gemeindesaal. Ein paar Frauen steigen einmal in der Woche hinauf zur Bibelstunde in den kahlen Schulraum.

LeerZu solcher Sakristei gehört der Pfarrer, der noch unmittelbar bevor er in die Kirche tritt, den letzten Zug aus seiner Zigarette tut, weil er ohne Rauchen nicht „meditieren” kann. In solche Sakristei passen die zur Beerdigung eines Amtsbruders erschienenen Pfarrer, die einander Anekdoten erzählen, bis sie unmittelbar, ohne einen Augenblick der Sammlung aus seichtem Gespräch hinaus an den Sarg des Amtsbruders treten. Diese Sakristeien sind der Ausdruck eines Pfarrgeschlechtes, das kaum etwas weiß von Stille, innerer geistlicher Ordnung und Sammlung. Es liest wohl jeder Pfarrer seine Zeitung täglich, aber ob täglich die Bibel? Auch für sich, nicht nur zum handwerksmäßigen Gebrauch? Wenn wir nicht einen völlig umgewandelten Pfarrertypus bekommen, ist unsere Kirche verloren. Völlig andere Pfarrer als solche, die mit vierzig Jahren nur mehr besorgte Familienväter sind; oder Pfarrer, die nach mühseliger Amtstätigkeit schon am Nachmittag im Kaffeehaus sitzen oder die Stammtischrunde aufsuchen; oder Pfarrer, die sich mit allem und jedem beschäftigen, Liebhabereien haben, die sie ganz ausfüllen, oder die politische Agitatoren sind und nur nebenbei auch noch Pfarrer. Was will man sagen, wenn ein Superintendent einem jungen Amtsbruder sagt: „Wissen Sie, wenn ich jetzt zwanzig Jahre jünger wäre, wäre ich längst nicht mehr Pfarrer, sondern Agitator der nationalsozialistischen Partei.”?

LeerWenn der Pfarrer einer Gemeinde von 2000 Seelen stolz sagt: „Ich habe jeden Sonntag 150 Leute in meiner Kirche!”, und man bei weiterer Frage die Auskunft erhält, das sei ein durchaus günstiger Prozentsatz, kann man wohl noch von einer „Volkskirche” sprechen? Zur Amtseinführung eines jungen Geistlichen in einer Industriestadt von 16000 Seelen kamen 24 Leute in die Kirche. Was kümmert das die evangelische Stadt? Aber woher soll nun der junge Mann noch Mut und Freudigkeit für sein Amt haben? Rußland das sonntagslose Land aus Zwang, Deutschland das sonntagslose Land aus Freiwilligkeit. Gemeinden, wo kein Gottesdienst mehr gehalten werden kann, nicht nur in der Stadt, auch auf dem Land, weil eben niemand, überhaupt niemand aus Gemeinden, die nach Tausenden zählen, zur Kirche kommt. Und wo ein Häuflein sich noch sammelt, abgesehen von dem sich drängenden Predigtpublikum unter der Kanzel einiger weniger bedeutender Prediger, sind es Kinder und alte Leute. Die Versammlung der Gemeinde - ein Großmütterverein und eine Konfirmandenstunde. Und was dazwischen da ist, sind das die jungen Mütter unseres Volkes? Sind das die kämpfenden Männer unseres Geschlechtes? Wo sind aber die?

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LeerDie kirchlichen Körperschaften sollen in bestimmten Fristen zusammentreten. Man sollte meinen, die Pfarrer und Ältesten hätten heute nichts Nötigeres zu tun, als sich zusammenzufinden, um miteinander zu beten und zu ringen um den rechten Weg der Verkündigung und der Gestaltung kirchlichen Lebens in unseren Tagen. Aber die Versammlungen werden wegen der Krise von oben abgesagt. Als ob nicht eine Gemeinde herbergen könnte! Ruft sie doch, die Glieder der Gemeinde! Sie werden gerne dir Boten aufnehmen, die zur Beratung zusammenkommen.

LeerIn sozialistischen, „kirchenfeindlichen” Kreisen hält man erst recht Zusammenkünfte, und die Genossen nehmen in ihren kleinen Wohnungen die zur Tagung Kommenden auf und teilen mit ihnen das kärgliche Brot geringen Lohnes oder die Arbeitslosenunterstützung. In einer Gemeinde, wo man das christliche Herbergen versucht hat, wurde von einem Frauenkreis darum gebeten. Die vier und mehr Zimmer hatten, entschlugen sich dieser Pflicht aus diesem und jenem Grund, aber diejenigen, wo man fragen muß: „Wo schläfst du nun selbst?” boten zwei und drei Quartiere an.

LeerIn einem Kirchenkreis der Diaspora tritt die Kirchenkreisversammlung schon mehrere Jahre nicht zusammen. Frägt man warum, so erhält man die Antwort: „Es liegt nichts vor.” Nein, kein Disziplinarfall, kein Kircheneinsturz! Welch eine Blindheit für den Zustand der Kirche und die Vorgänge in der Welt, daß man sich dabei beruhigen kann: „Es liegt nichts vor!” Kann man für eine solche Kirche noch hoffen?

LeerNoch hat man in vielen evangelischen Kirchen zum Oberhaupt einen „Kirchenpräsidenten”; die unierte Kirche liebt den „Generalsuperintendenten”. Das eine klingt demokratisch, das andere vielleicht etwas autoritärer. Man wehrt sich im Namen des Evangeliums gegen den „Bischof”. Das schlichte Wort der Bibel, das seit tausend Jahren unserem Volk vertraute und ganz und gar eingedeutschte Worte für einen Kirchenführer und Oberhirten wird als unevangelischer Fremdling ausgestoßen, trotz der vielen lutherischen, ja selbst reformierten und methodistischen evangelischen Bischöfe in der Welt, ungeachtet des Sachsenbischöfe in Siebenbürgen und eines Erzbischofs Söderblom. Wesen und Amtsbezeichnung kirchlicher Führerschaft wird von den Ideen der französischen Revolution, der westlichen Demokratie genommen und der rechte christliche deutsche Bischof seiner Kirche im Namen des reinen Protestantismus als katholisch abgelehnt.

LeerWir pflegen das stolze Bewußtsein eines fortgeschrittenen Parlamentarismus mit Fraktionssitzung, Frauenwahlrecht, Mehrheitsabstimmungen und halten das für die der Zeit angemessene Kirchenführung. Ein Kirchenpräsident sei Schutz gegen klerikale Anmaßung, ein Bischof sei der Anfang zu einer Hierarchie. Als ob „Hierarchie” etwas anderes bedeuten müßte als sinnvolle Führung und Abstufung in allen verantwortlichen Ämtern. Gibt es schlechte Hierarchie in Geschichte und Gegenwart, dann ist es unsere Aufgabe, ihr die gute Hierarchie nach biblischem Maßstab gegenüberzustellen. Weil wir keine Kraft haben, sie zu gestalten, und keinen Mut zur verantwortlichen Führung in der Kirche, geben wir die Gestaltung der Kirche an die Welt preis.

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LeerSoll man noch reden von der Devaheimkatastrophe? „Evangelische” Zentralbank? Da ist die Verweltlichung der Kirche offen sichtbar geworden. Sie gründet Konzerne, ihre Führer sitzen in Verwaltungsräten, sie nimmt die Allüren moderner Großunternehmungen an, sie ist fortgeschritten bis zu den neuesten Errungenschaften moderner Organisierung. Sie ist Organisation geworben und ist nicht mehr lebendiger Organismus.

LeerDarf man noch hoffen? Der Einbruch des westlichen Liberalismus in unsere Kirche ist vollkommen. Von Osten her bedroht sie die anstürmende radikale Gottlosigkeit. Darf man noch hoffen, daß unsere Kirche zum Leben und Kämpfen und zur ernstlichen Erneuerung bereit und fähig ist? Wir dürfen uns nicht durch einzelne, auch nicht durch viele erfreuliche Erfahrungen den Blick trüben lassen für die entsetzliche Verlorenheit und Verderbtheit unserer Kirche. Bibel, Sakrament, Verkündigung, Gottesdienst, Seelsorge, Amt, alles verloren, aufgelöst.

LeerJe nüchterner wir die Wirklichkeit sehen und je tiefer der Schmerz und die Reue und das Flehen ist, desto weniger werden wir von neuen Methoden und von einer Umstellung des Betriebes etwas erhoffen, sondern alles von dem heiligen Geist, der „beruft, sammelt, erleuchtet” und die Kirche baut, auch und gerade in unserer Zeit als ein „königliches Priestertum und ein heiliges Volk”. Wir müssen mit neuem Ernst erkennen, daß die Kirche des Evangeliums nur lebt vom Evangelium, daß Wort und Sakrament, brüderliche Gemeinschaft der milites Christi, diakonischer und missionarischer Dienst ihre Lebenselemente und Lebensformen sind. Wie kann die Kirche ihren Dienst tun an der Welt, wenn die Welt in der Kirche regieren darf? Es ist nichts anderes notwendig, als daß die Kirche wieder Kirche werde.

Anm.: 1: Ich kenne eine evangelische Kirche, deren Altar auf Rollen gestellt ist, um je nach dem liturgischen Geschmack des amtierenden Pfarrers her- oder in einen Winkel weggerollt zu werden. Der Roll-Altar als Ausdruck der liturgischen Diskussionslage! (Der Herausgeber)

Das Gottesjahr 1933, S. 38-43
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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