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von Gustav von Bodelschwingh |
Wir haben einen Bund der Gottlosen. Das ist die ernsteste Tatsache unserer gegenwärtigen deutschen Lage. Wie konnte es zu einem solchen Heer Gottgelöster kommen? Wir denken an unsere Großstädte. Der Mensch, der in einer vielstöckigen Mietskaserne aufwächst, sieht oft Monate hindurch weder Sonne noch Mond. Kein Baum, kein Strauch erfreuen sein Auge, kein Vogelgesang sein Ohr. Vielleicht noch niemals in seinem Leben hat der weiche, warme Rasen seinen Fuß umfangen. Von dem Brausen der Fabriken und dein Jagen des Straßenverkehrs ist sein Tag erfüllt, und die Nacht von den oft so zudringlichen Bildern und Wellen des Kinos und Radios. Schöpfungen des Menschen umgeben den Städter von allen Seiten. Die Verbindung mit der unmittelbaren, jenseits der menschlichen Vermittlung liegenden Schöpfungswelt aber ist gehemmt, für manchen nahezu gänzlich aufgehoben. Von den Schöpfungen des Schöpfers gelöst zu sein, trägt aber immer die Gefahr in sich, vom Schöpfer selbst gelöst zu werden. Darum ist es nicht zu verwundern, daß gerade unsere schöpfungsgelösten Großstädte der Herd eines Bundes von Gottgelösten sind. Aber so ernst es ist, wenn die Verbindung zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Natur gelockert oder gelöst wird, noch viel ernster ist es, wenn die Verbindung zwischen Mensch und Mensch schwindet. Gerade in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch aber ist unbemerkt, was uns zunächst als Gewinn erschien, zum großen Schaden geworden. Was zieht unsere Kolonisten immer wieder mit unwiderstehlicher Gewalt ins einsame Afrika zurück und warum fühlen sie sich unter den unberührtesten wilden Stämmen am wohlsten? Darum, weil sie dort trotz aller heidnischen Verdunkelungen noch eine Welt organischen Volkslebens umgibt, während bei uns die Organisation den Organismus zu erdrücken droht. Eine geradezu gigantische Welt menschlicher Schöpfungen begleitet in der Gestalt von Organisationen den Menschen von der Geburt bis zum Grabe. Organisierte Kasten für die Stunde des ersten Lebensschreies bis zur Stunde des letzten Atemzuges. Organisation für die Zeiten der Krankheiten, des Unfalls, des Alters, und der Arbeitslosigkeit, Organisationen für Feuer- und Wassernot, für Hochzeiten und Beerdigungen, für Wald und Feld und Vieh. Man braucht in Zeiten der Not weder Vater noch Mutter mehr, weder Bruder noch Schwester, weder Freund noch Nachbar, weder Verwandte noch Arbeitsgenossen. Für alle diese zarten, ursprünglichen, göttlichen, schöpfungsmäßigen Organismen ist Ersatz geschaffen durch die menschliche Organisation. Schöpfungsersatz statt Schöpfung. Unerbittlich festgefügte Organisationen auf der einen Seite, zerfallende Ehen, zerfallende Freundschaften, Nachbarschaften, Verwandtschaften, mit einem Wort, zerfallende Organismen auf der andern Seite. Das ist das Bild unserer heutigen Lage. Wo aber der Mensch nicht mehr den Weg zum Menschen findet, wo Geschöpf und Geschöpf sich voneinander trennen, da entsteht die grauenhaste Vereinsamung in der mit dem Geschöpf auch der Schöpfer in die Ferne rückt und aus dem Schöpfungsgelösten der Schöpfergelöste zu werden droht. Wollen wir sie schelten, diese mannigfachen Organisationen, die sich als Wohltäter der Menschheit anboten? Wollen wir gerade jetzt sie schelten, wo sie von unaufhaltbarem Zusammenbruch bedroht erscheinen und zwar in einem Augenblick, wo mehr denn je die Hoffnungen Ungezählter auf sie gerichtet sind? Wir würden Unschuldige schelten. Wir würden mit unserm Schelten leblose menschliche Gebilde treffen, statt uns selbst zu schelten. Denn nur durch unsere eigene Schuld konnten die von uns geschaffenen Organisationen, statt dienstbare Knechte zu bleiben, die tyrannischen übermütigen Herren werden, deren Übermut nun mit dem Sturz in die Tiefe bedroht ist. Überall in den Mietwohnungen der Städte und den überlasteten Siedlungen des Landes wachsen Menschen heran, die nicht mehr mit Freuden die großen Gaben der Schöpfungswelt genießen und in selbständiger Verantwortung verwalten; vielmehr weil sie ohne innerste Verbindung mit der Heiterkeit der Schöpfungswelt bleiben, fallen sie der Verbitterung anheim, die sie die Faust erheben läßt gegen einen Staat und eine Kirche, die, jedes von beiden auf seinem Gebiet, durch schmerzvolle Unterlassung und Versäumnis diese Welt der Gottgelösten heranwachsen ließ. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten und aus der Welt der Organisation in die Welt des organischen Lebens zurückzuführen, nicht so, daß die Organisation ausgeschaltet wird, sondern sodaß sie auf den bescheideneren Platz einer Dienerin und Gehilfin des Organismus zurückkehrt. Ist das noch heute möglich? Ich darf es aus eigener Erfahrung heraus freudig bejahen. Ermattet kehrte ich von der zentral-afrikanischen Arbeit in die Heimat zurück. Das heimliche Fieber lähmte die Arbeitskraft. Sie reichte nicht mehr aus, das Amt auszufüllen. Schließlich gehörte ich mit den Meinen zugleich zu den Heimatlosen. Das treue Bethel lockte zurück in einen stillen Bergungsort. Aber die Freunde in der alten ländlichen Gemeinde lockten stärker: „Wir bauen Dir eine Heimat aus Lehm. Wir helfen Dir bauen”. Gemeinsam wurde das Fundament ausgeschachtet. Wo auf den Nachbarhöfen nach der Frühjahrsaussaat Pferde ruhend im Stalle standen, wurden sie angeschirrt, um Steine, Sand und Kalk für die Kellerwände anzufahren. Auf den Grundmauern errichtete der Zimmermeister mit kundiger Hand, wie früher bei den alten deutschen Fachwerk-Häusern, zunächst das Dach, von nur wenigen Ständern gestützt. Durch gemeinsames frohes Langen von Hand zu Hand wurde es mit Pfannen gedeckt. Dann kam die große Freudenzeit. Das uralte Baumaterial der Menschheit, der ungebrannte Lehm, kam wieder zu Ehren. Mit bloßen Füßen traten wir ihn zu einem zähen Brei. Frauenhände, Männerhände, Hände von Großvätern und Großmüttern, jungen Burschen und jungen Mädchen, und vor allem von Kindern kneteten auf dem bereitstehenden Tische den Lehm zu Broten. Wir warfen die Brote dem Meister zu, und der verlegte sie unter dem Schutz des Daches nach der Schnur ungeformt und ungetrocknet, wie die Schwalbe ihr Nest baut. Als die starken Lehmmauern hoch geführt waren, reihte sich eine weitere Arbeit an die andere. Die Kunst und Erfahrungen des Handwerks verbanden sich mit der Tätigkeit der Familie und der freien Hilfe ihrer Nachbarn, Freunde und Verwandten. Nicht harter, kalter Stein wird verwandt, sondern der heimatliche Boden, so wie ihn Gott hat werden lassen. Der Siedler formt mit seinen Händen den Lehmballen, wie es ihm gefällt, und ahnt dabei etwas von der Schöpfermacht, die alles geschaffen hat. Vom 5jährigen Kinde bis zur alten Großmutter ist alles mit einer ursprünglichen Wonne bei der Arbeit. Das Kind greift nach dem Ballen wie im Spiel, und der Erwachsene wird bei der Arbeit wieder zum fröhlich spielenden Kinde. Ein Stück des ursprünglichen Menschen wird wieder wach und unbewußt wird der Mensch mit seiner heimatlichen Erde verbunden. Indem die Familie mit eigenen Händen den Lehm bereitet, zwischen dessen Wänden sie in Zukunft die Zeit von Geburt bis Sterben hinbringt, entsteht eine Verknüpfung mit der Schöpferwelt, die so leicht nicht wieder gelöst werden kann. Und doch ist auch das nicht das Entscheidende bei unserm Lehmbau. Die Geschichte unserer Arbeit hat es uns als Beigabe in den Schoß gelegt; sicherlich die wichtigste, wenn nicht eine unbedingt notwendige Beigabe. Wie es heute nicht die größte Not ist, daß wir den Zusammenhang zu Gottes Schöpferwelt verloren haben, sondern den Zusammenhang zu unserm Nächsten, so will der Lehmbau nicht in erster Linie naturverbundene Menschen schaffen, sondern den Menschen wieder zu seinem Mitmenschen hinführen. Während des größten Teils der Bauzeit ist der Siedler auf die Mitarbeit der ganzen Familie, der Verwandtschaft und Nachbarschaft angewiesen. Der Bau eines Lehmhauses ist einfach ohne diese freiwillige Mitarbeit nicht möglich. Der Lehmbau würde seine Seele verlieren, wenn diese Arbeit ausgeschaltet würde. Die Familie, die oft nur noch durch Tisch- und Schlafgemeinschaft zusammengehalten ist, hat plötzlich wieder eine gemeinsame Aufgabe, die die Familie fest aneinanderkettet. Treffend sagt einer unserer Freunde, was der Bau des Lehmhauses für die Familie bedeutet: „Das Heim ist für die Siedlerfamilie nicht ein Geschäft, sondern ein Erlebnis, nicht eine Ware, sondern ein Werk.” - Die freiwillige Mitarbeit der Nachbarschaft verpflichtet und verbindet die Häuser wieder untereinander, man fühlt sich wieder eingeordnet in den Verband der nachbarlichen Gemeinschaft. Jetzt, wo unsere Arbeit sich auch über die engeren Grenzen unserer Heimat ausdehnen konnte, ist es ein besonders frohes Erlebnis, zu sehen, wie nicht nur auf dem Lande, sondern auch auf dem Gebiet der Großstädte die Zuversicht durchbricht, daß die Familie noch stark ist, sich durch eigene Hilfe ein Heim zu schaffen, sofern nur Staat und Gemeinde ihr die notwendigste Hilfe gewähren und die Welt der Organisationen ihr nicht feindliche, sondern freundliche Gesinnung und Unterstützung schenkt. Eines freilich muß bedacht werden: Durch die jahrzehntelangen erschlaffenden, auflösenden und zersetzenden Einwirkungen der Überorganisation sind die organischen Kräfte der Familie vielfach so erlahmt und erschöpft, daß sie ohne ständige Beratung und Unterstützung nicht mehr zur Selbsttätigkeit erstarken. Hier sind hingebende, opferwillige Kräfte nötig, die sich in den Dienst unserer heimatlosen Familien stellen, um sie wieder zusammenzuschließen für die gemeinsame Errichtung einer eigenen Heimstätte. Land zur Ansiedlung ist genug vorhanden, und, da jede durch Selbsthilfe des Familienorganismus errichtete Heimstätte billiger wird als auch die billigste, lediglich durch die Organisation geschaffene dürftige Mietswohnung, so ist auch Geld genug vorhanden. Was aber den erschöpften und erschlafften Organismen unserer Familien fehlt, sind Siedlungshelfer und -Helferinnen als Vorkämpfer und Vorkämpferinnen für eine Seßhaftmachung inmitten der Schöpfungswelt. Blöde Kinder zu pflegen, ist, sobald der erste natürliche Ekel überwunden ist, leicht. Man lebt mit solchen Kindern zusammen, wie in klösterlicher Abgeschiedenheit, zu der das Branden und Tosen einer unser ganzes Volk aufs schwerste bedrohenden Flut nur wie aus der Ferne herübertönt. Organisationen aller Art, einschl. christlicher Vereine, zu leiten, ist auch nicht allzu schwer. Und vollends der ist am glücklichsten zu schätzen, der aus dem tausendfachen europäischen Zerfall im Schaffen der Urwälder hineintauchen kann in die organische Welt asiatischer und afrikanischer Urstämme. Aber sich ohne Bildungsdünkel und ohne Anspruch auf Lebensstellung unter die vom Zerfall bedrohten heimatlosen Familien zu stellen, um ihnen in täglicher mitarbeitender Hingabe durch eine eigene Heimstätte eine neue Verbindung mit der Schöpfungswelt zu schaffen, das ist unter allen Aufgaben die schwierigste, dringendste und schönste zugleich. Ohne den Gottesgeist, der den Kampf wagt mit den bösen Geistern der Zeit, ist sie nicht zu lösen, und nicht ohne den Meister, der die Brücke bildet von Mensch zu Mensch und vom Geschöpf hinüber zu seinem Schöpfer. Aber gelöst werden muß diese Aufgabe. Denn wir sind nur dann Nachfolger Christi und Träger seines Geistes, wenn wir einander wieder heraushelfen aus dem Überdruck menschlicher Schöpfungen in die ursprüngliche, gottgeschaffene Welt der Organismen hinein, damit unser Volk von den Grundelementen eines schöpfungsverbundenen Lebens aus wieder zurückgelange in den Ursegen der sichtbaren und unsichtbaren Gottesgüter. Das Gottesjahr 1932, S. 86-91 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel [Wikipedia: Dünner Lehmbau] |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-11-27 |