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1932
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Das Tier
von Ludwig Heitmann

„Er war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm.” Mark. 1. 13

LeerWir haben das Geheimnis des Tieres verloren. Die Aufklärungszeit hat die vom Schöpfer gesetzten Beziehungen zwischen Mensch und Tier zerstört und nur die Beziehungen übrig gelassen, die sich mit dem menschlichen Egoismus vereinbaren ließen. Es blieb das Schlacht- und Nutztier, das Objekt wissenschaftlicher und neugieriger Betrachtung, das Spiel-, Sport- und Jagdtier und das Versuchstier. Da es in manchen diesen Beziehungen auswechselbar ist, der menschliche Egoismus auch immer die Tendenz zur Zerstörung in sich trägt, so sind große Schichten der Tierwelt überhaupt in Gefahr, aus dem menschlichen Blickfeld und von unserm Planeten zu verschwinden. Die Erstarrung der menschlichen Zivilisation offenbart sich nicht zuletzt in ihrer Tierfeindschaft und ihrer Tierferne. Daß die Tierwelt eine ganz große und wichtige Seite in der Schöpfungswelt Gottes ist, mußte einem Geschlecht verloren gehen, das überhaupt nichts mehr vom Schöpfer weiß.

LeerEs gibt Gegenwirkungen gegen diese Entwicklung. Sie sind gewiß noch weithin romantischer Natur. Man „schützt” das Tier vor völliger Ausrottung oder vor unnützer Quälerei. Die zoologischen Gärten und die Museen werden „naturähnlicher” gestaltet; selbst die zoologischen Lehrbücher, diese furchtbarsten Dokumente einer nützlichkeits- und systembeflissenen Wissenschaft, die die Jugend einer ganzen Generation tierfremd gemacht haben - man lese einmal nach, was solche Bücher aus einem Pferde zu machen vermochten - wurden „lebensnäher” geschrieben. Von wirklicher Ehrfurcht vor der Schöpfung ist in allen diesen Bewegungen noch wenig zu spüren.

LeerIndessen fängt die Gegenwart an, weiter zu stoßen. Man begegnet hier und da Menschen, die aus der sinnlos gewordenen Zivilisation zur Tierwelt flüchten. Es gibt Tierbücher und Kunstwerke der jüngsten Zeit, die auf die Entdeckung eines neuen Geheimnisses ausgehen. Wenn ein führender Schriftsteller der Zeit (Galsworthy) nicht ohne Erschütterung die Erkenntnis ausspricht, daß ein Hund wahrscheinlich mehr wisse von Gott als ein ganzes macht- und besitzbeflissenes Geschlecht, so künden sich hier Wandlungen an, die auf eine Neuentdeckung des Schöpfungsgeheimnisses auch in der Tierwelt hinzuweisen scheinen. Schwerer freilich wiegt noch die geradezu aufrüttelnde Wiederentdeckung des Tieres bei der Generation, die vier Jahre im Felde „bei den Tieren” war. Es gibt wohl kaum einen Feldsoldaten, den nicht das Rätsel der uns alle umfassenden Schöpfung und das tiefste Grauen des Lebens aus den Augen eines Pferdes angeschaut hätte. Das Geheimnis des Tieres läßt uns nicht wieder los, seitdem wir aus der Menschenwelt selber das „Tier aus dem Abgrund” haben aufsteigen sehen.

LeerWas ist es um das Tier? Genügt es da, philosophisch den Abstand zwischen dem „vernunftbegabten Menschen” und dem „unvernünftigen Tier” festzustellen oder umgekehrt naturwissenschaftlich die lückenlose Entwicklungsreihe von der Amöbe bis zum Menschen aufzuweisen? Sind das nicht Abstände und Zusammenhänge, die das Geheimnis des Schöpfungseinheit und des durch sie hindurchgehenden Risses garnicht treffen? Beginnt nicht die Forschung selber (Dacqué) an der Zulänglichkeit ihrer Methoden, die Entwicklung der Tierwelt zu begreifen, irre zu werden und ganz neue Zusammenhänge, auch mit der Menschenwelt, zu ahnen? Fängt nicht selbst sie wieder an, den alten Mythos zu belauschen und in ihm reale Wahrheiten zu wittern, die dem rationalen Geschlecht unserer Tage verloren gegangen sind? Wußte und weiß vielleicht der Primitive mehr vom Tier als die ins Unermeßliche greifende Sammelwut einer Wissenschaft, die nur deshalb ins Uferlose gerät, weil sie die Tiefe nicht mehr kennt?

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LeerEin erstes Ahnen geht uns Heutigen wieder auf, daß die „seufzende Kreatur”, die doch am eindringlichsten aus der Tierwelt zu uns spricht, im tiefen Zusammenhange stehen könnte mit dem Grundschicksal der Menschheit, ihrem Ursprung in Gott, ihrem Abfall und ihrer Erlösungssehnsucht. Der karge Bericht des Markusevangeliums über die Versuchungstage Christi in der Wüste: „Er war bei den Tieren” könnte eine tiefere Bedeutung haben als die einer Beschreibung äußerer Umstände. Paulus hat den Zusammenhang der in Christus geschehenen Erlösung mit der seufzenden Kreatur klar durchschaut, ja, die ganze Bibel beschäftigt sich, wenn man genau zusieht, von ihrer ersten bis zu ihrer letzten Seite in einem erstaunlichen Umfange mit der Tierwelt und flicht sie in einer geradezu überraschenden Weise in das Schicksal der Menschenwelt hinein. Wir wollen versuchen, soweit das uns Heutigen überhaupt möglich ist, aus diesem Buch der Schöpfung und Neuschöpfung der Menschheit einige Zusammenhänge zu erspüren, die uns dem Geheimnis des Tieres näher bringen können.

LeerBefragt man die Bibel als ganze nach ihrer Stellung zur Tierwelt, so liegt zwischen ihrem ersten und ihrem letzten Buche ein Abstand in der Betrachtungsweise, der uns zunächst davor zurückschrecken läßt, zwischen diesen gegensätzlichen Religionsstufen noch Zusammenhänge zu suchen. Und doch liegen schon die ältesten Partien der Bibel jenseits der Lebensstufe, von der uns die Erforscher der Primitiven berichten, auf der Mensch und Tier noch ganz ungeschieden in die Schöpfungseinheit eingebettet erscheinen. Von einem gleichstufigen Verkehr zwischen Mensch und Tier, von einer selbstverständlichen Verwandlung beider ineinander, von tiermenschlichen Doppelwesen, vom Totensemismus ist kaum eine Spur zu entdecken, ja selbst das Menschenopfer als dem Tieropfer gleichgeordnet erscheint nur eben noch an der Grenze. Die „sprechenden Tiere” gehören schon einer viel späteren Stufe des mythischen Denkens an.

LeerTrotzdem bleibt ein ganz großer Abstand zwischen dem ersten Schöpfungsbericht und der Schau der zweiten Schöpfung am Schluß der Bibel. In beiden spielt das Tier eine wichtige Rolle. Zwei Schöpfungstage im ersten Schöpfungsbericht gehören der Erschaffung der Tierwelt, und die Erschaffung des Menschen gipfelt in der Feststellung seiner Herrschergewalt über die Tiere. Noch tiefer erscheint das Verhältnis des Menschen zur Tierwelt gefaßt in dem sogen. zweiten Schöpfungsbericht (1. Mos. 2). Hier gibt der Mensch jedem Tier den Namen und gliedert es dadurch in sein eigenes Wesen und damit in die große Schöpfungseinheit hinein: „Wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heißen.” Wunderbar tief freilich wird hier auch der Abstand angedeutet durch den Satz: „Aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre.”

LeerUnd die schmerzliche Feindschaft zwischen beiden Welten findet ihren ewig bedeutsamen Ausdruck in dem Mythos vom Sündenfall. Das Wissen um den Riß, der durch die Schöpfung geht, beherrscht von diesen Anfangskapiteln her die ganze Bibel. Es findet seinen erschreckend unheimlichen Ausdruck in ihrem letzten Buch, der Offenbarung St. Johannis. Hier ist das „Tier”, das freilich nun nicht mehr naturhaft, sondern in rein visionärer Gestalt und in einer alle irdischen Maße übersteigenden Verzerrung (Drache! Tier mit sieben Häuptern und zehn Hörnern!) erscheint, der grauenvolle Ausdruck der satanischen Macht geworden, die sich aus der Tiefe gegen alles Göttliche erhebt und die Gemeinde Gottes bis aufs Blut verfolgt und quält. Hier ist das Tier das alles überbietende Zeichen der zerstörten Schöpfung geworden.

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LeerTrotzdem lenkt gerade dies letzte Buch der Bibel in gewaltiger Vision zurück auf die ursprüngliche Einheit zwischen Mensch und Tier. Zurückgreifend auf die Vision des Ezechiel schildert es (Offb. Joh. 4) den Ewigen auf seinem Throne, umgeben von den „vier Tieren” - Löwe, Kalb, Mensch, Adler -, die „Preis und Ehre und Dank geben dem, der da auf dem Stuhl saß, der da lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit”. Und mitten unter diesen gewaltigen Tiersymbolen erscheint hier das christlichste aller Symbole, das Symbol der Erlösung schlechthin, in dem das Tierhafte im dämonischen Sinne völlig ausgelöscht ist: „das Lamm, das erwürget ist.” (Vgl. den Lobpreis der ganzen Schöpfung Offb. Joh. 5, V. 11 - 14).

LeerWir brauchen nur diese beiden Grenzschilderungen der ersten und der zweiten Schöpfung in der Bibel uns in ihrer alles übergreifenden Spannweite zu vergegenwärtigen, um zu ermessen, wie tief hier das Tier in den Zusammenhang mit dem Grundschicksal der Menschheit hineingestellt erscheint. Eine „nur-symbolische” Betrachtung, die in dem allen lediglich eine bildhafte Sprache im abstrakten Sinne sieht, versagt hier völlig. Dahinter liegen Wirklichkeitszusammenhänge - alle echten Symbole weisen ja auf solche zurück -, die wir heute langsam wieder zu ahnen beginnen. Alle Religionen ohne Ausnahme wissen um diese Wirklichkeitszusammenhänge, um das Tier im Menschen und den Menschen im Tiere.

LeerWir können sie nur andeuten. Das Tier gehört für die Schau des Glaubens mit dem Menschen zusammen in die große Schöpfungseinheit hinein. Gewaltiger in seiner Größe und Unerfaßbarkeit ist das Schöpfungsgeheimnis wohl nicht geschaut worden als in den unvergleichlichen Tierliedern des Hiobbuches. Gottes zerschmetternde Macht und unergründliche Weisheit wird spürbar in den wunderbaren, ja unbegreiflichen Tierschöpfungen seiner Hand. In der Tierwelt ist lebendig das Lob des Schöpfers. Trotzdem bleibt der Abstand vom Menschen. So gewiß der Schöpfungsglaube nichts zu tun hat mit einer wissenschaftlich fundierten Entwicklungsgeschichte, so gewiß weiß er doch um eine Schöpfungsordnung, um eine heilige Rangfolge, die das Tier unmittelbar hinter den Menschen rückt. Es steht ihm in der Schöpfung am nächsten, aber der Mensch ist dazu berufen, über es zu herrschen, es verantwortlich in seinen Dienst und damit den Dienst des Schöpfers zu stellen. Mit ihm verbindet es die „lebendige Seele”, die heilige Lebenskraft, die es vom Schöpfer empfing.

LeerDiese ist und bleibt heilig, gerade weil sie dazu berufen ist, den Menschen zu nähren, sein Leben zu bereichern, ihm helfende Kraft zu sein. Den stärksten Ausdruck findet Nähe wie Abstand darin, daß das Tier Opfer werden kann, das der Mensch Gott darbringt als ein Stück seiner selbst und doch als ein stellvertretendes Lösegeld. Auch mit der strengeren Fassung des Opfergedankens, durch die immer und überall der Mensch selbst, seine innerste Seele gefordert wird, also mit dem Schwinden des stellvertretenden Tieropfers schwindet nicht die Verpflichtung der Ehrfurcht vor allem Lebendigen als vor einem Heiligen, das der Mensch nicht mutwillig zerstören darf, sondern in den Opferdienst am Leben zu stellen hat. Es schwindet auch nicht das Wissen um den Abstand, ja um den geheimnisvollen Riß: die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren lebt im Grundgefühl aller Völker und Rassen. Erst das reine und vollkommene Opfer Christi hat auch das Tier erlöst zum reinen Dienst des Schöpfers.

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LeerErlöst freilich nur, wie auch den Menschen, in der Hoffnung! Denn der Mensch, und mit ihm die Schöpfung, ist herausgefallen aus dem Dienst des Schöpfers, und ist dem Dienst der Eitelkeit und der Vergänglichkeit unterworfen worden. Der Fluch, der den Menschen traf, hat das Tier noch schwerer getroffen, denn es ist ihm wider seinen Willen unterworfen worden. Darum wirkt das Leiden eines Tieres unendlich viel anklagender als das Leiden eines Menschen, eine uralte Wahrheit, die das Erlebnis des Krieges wieder herausgestellt hat. Das Tier aber ist über das alles hinaus noch in besonderem Sinne zum Opfer dieses Fluches erkoren, es ist zum Sündenbock geworden, der in die Wüste getrieben wird. Das „wilde Tier” wurde zum Träger und Sinnbild des Grauens, der Zerstörung, der Feindschaft, des Abscheus, des Elends innerhalb der Schöpfungswelt. Durch die Tierwelt selbst zieht der furchtbare Riß, der die Schöpfung aufspaltet. Der „Kampf ums Dasein”, der auch die Menschenwelt zerreißt, hat hier sein grauenvolles Urbild gefunden.

LeerDarum ist es nicht Zufall, daß die großen Hoffnungsbilder einer erlösten Schöpfung von Anbeginn her vor allem der Tierwelt entnommen worden sind. Hier muß Erlösung grundlegend sich auswirken. „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Pardel bei den Böcken liegen.” Noch in Christi Friedensbotschaft zittert der Schrecken des Tieres hinein. Sein Aufenthalt bei den Tieren der Wüste ist Ausdruck für sein Hinabsteigen in das Elend der verlorenen Schöpfung; der Wolf, der die Schafe erhascht und zerstreut, ist das Urbild für den Feind, der die Gemeinde Gottes zerstört. Das warnende Wissen um die Tierheit, die auch und gerade die reinste Himmelsbotschaft bedroht, klingt drohend heraus aus seinem Wort: „Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen und sich wenden und euch zerreißen.”

LeerAber in Christi Botschaft grüßt uns auch der reinste Ausdruck einer erlösten Tierwelt. Der Sperling auf dem Dache, der in des ewigen Vaters fürsorgender Liebe steht, die Vögel unter dem Himmel, die der himmlische Vater nährt, sind unvergängliche Gleichnisse seiner Friedensbotschaft über die geängstete Schöpfung geworden. Daß auch über der letzten Feindschaft die Verheißung des Friedens einer neuen Schöpfung steht, ist wohl tiefer und umfassender nie ausgesprochen worden als in dem schlichten Mahnwort an die Boten des neuen Geistes: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.” Der Glaube des Kindes darf zusammenschauen und zusammenfügen, was in einer verlorenen Welt hoffnungslos auseinanderklafft. In den Franziskusnaturen ist solcher Schöpfungsfriede vorweggenommen.

LeerFreilich vor der erlösten Schöpfung steht das heilige Schmerzensbild des „Lammes, das erwürget ist”, in dem alle Geheimnisse einer verlorenen und wiedergewonnenen Schöpfung zusammengefaßt sind. Durch dies heilige Bild klingen hindurch die unfaßbarsten Widersprüche, die das Leben der Schöpfung zerreißen: die Reinheit und Unschuld der ursprünglichen Schöpfung, die Bosheit und Ruchlosigkeit einer in grausige Tierheit versunkenen Welt; aber in ihm grüßt uns auch die Einheit einer neuen Schöpfung, in der das Opfer nicht mehr Fluch, sondern Speise, Kraft, Freude, Leben ist: Wir haben ein  O s t e r lamm, das für uns geopfert ist, Christus. Was hoffnungslos zerrissen war, in dieser „Speise des Lebens” ist es zusammengefügt zu einer lebendigen Hoffnung auf eine neue Schöpfung, in der zusammengefaßt sein werden alle Dinge, die im Himmel und auf Erden sind.

Das Gottesjahr 1932, S. 78-82
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-15
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