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Das Wunder des Lichtes
von Paul Girkon

LeerFür unsere Stellung zum naturhaften Geschehen ist es von wesentlicher Bedeutung, ob wir in ihm das Normale oder das Wunderbare wahrnehmen. Das normale Naturgeschehen steht unter der Norm. Es vollzieht sich nach Gesetzen, die sich dem Nachdenken und der Erfahrung bis zu einer gewissen Grenze als zugänglich erweisen. Man kann durch das Begreifen solcher gesetzmäßigen Zusammenhänge den Sinn des Geschehens verstehen und seinen Eintritt und Ablauf vorausberechnen. Das Wunder aber ist die Erscheinung von Mächten aus einer jenseitigen Sphäre des Wirklichen in der Ebene des Normalen. Diese Mächte lassen sich nicht in gesetzmäßige Zusammenhänge einordnen, sie lassen sich nicht begreifen und berechnen. Sie sind unmittelbare Verwirklichung des übernatürlichen vor dem Blick des äußeren und des inneren Gesichtes.

LeerWenn wir den Sonnenaufgang als ein Wunder bezeichnen, dann ist diese Aussage meist nur der uneigentliche Ausdruck eines überschwänglichen Gefühles. Und gegen solche Gefühle und Ausdrücke sind wir heute nicht ganz mit Unrecht mißtrauisch geworden. Aber es gibt ein Schauen des Lichtes, das sich mit innerer Sachlichkeit und Notwendigkeit zu der Aussage formt: das Licht ist Wunder.

LeerDie Stätte des Wunders ist nicht der Himmel, sondern die Erde. Das Wunder kann nur im Bereich des Normalen geschehen. Denn damit es als Wunder erlebt werden kann, bedarf es des Maßstabes, den es an der Norm des normalen Geschehens gewinnt. Im allgemeinen wird die Anwendung dieses Maßstabes in seiner Vernichtung bestehen. Wenn das Wunder geschieht, sind die gesetzmäßigen Ordnungen außer Kraft gesetzt. Eine Ursächlichkeit höherer Ordnung erscheint und verwirklicht sich in überragender Macht inmitten des normalen Geschehens. Sie verwirklicht sich nicht als Wirkung einer Ursache, sondern als Machtwort einer Schöpfung. Sie geschieht nicht ans der Vermittlung durch einen unabsehbaren Zusammenhang und Ablauf vorangehender Ursachen, sondern als unmittelbarer Ursprung aus überirdischem Quell.

LeerAber gerade beim Aufgang des Lichtes wird es deutlich, daß dieses „Durchbrechen” der Naturgesetze, dieses Merkmal des Unvorhergesehenen und Außergewöhnlichen für das Wesen des Wunders nicht entscheidend ist. Der Sonnenaufgang erfolgt an jedem Morgen aufs neue mit einer Gesetzmäßigkeit, die sich aufs genaueste vorausberechnen läßt. Der Anbruch des Lichtes ist ein gewohntes, alltägliches Geschehen. Und doch verwirklicht sich in diesem so offenbaren Geschehen ein Geheimnis, das einer jenseitigen Ordnung des Wirklichen angehört. Die eigene Normalität und Berechenbarkeit wird zum Maßstab für dieses Jenseitige. Sie ist gewissermaßen nur eine Schwelle, die es verdeutlicht, daß sie überschritten wird: daß der Bereich des Diesseitigen, Alltäglichen und Irdischen verlassen wird. Wenn ein Naturereignis durch ein Geheimnis im Herzen des Geschehens sich selbst entrückt wird, wenn seine irdische Wirklichkeit zum Maßstab wird, der es dem Schauenden ganz deutlich macht: hier geschieht etwas gänzlich anderes, als das Begreifbare und Berechenbare, dann geschieht ein derartiges Ereignis als Wunder.

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LeerJa, man darf sagen, daß alles Außergewöhnliche, Unbegreifliche und Unberechenbare eines Wunders, das sich den Ordnungen des Normalen entzieht und den Zusammenhang der Naturgesetze unterbricht, nichts anders ist als gleichsam die deutlichste Bezeugung der Tatsache: hier geschieht etwas, das wir sehen und hören, das wir tasten und erkennen, und das dennoch weit mehr und unendlich anders ist, sodaß diese seine Erfahrbarkeit und Wahrnehmbarkeit zum Maßstab für seine „Außerordentlichkeit” wird. Dadurch begreifen wir die sehr seltsame Tatsache, daß jede Symbolform nur offenbarungskräftig ist, weil sie zweisinnig und zweideutig ist. Das Symbol ist etwas ganz anderes, als das, was es bedeutet. Aber diese Andersartigkeit ist gar nichts weiter als der Maßstab für eben dieses überragend Jenseitige, das sich in ihr verwirklicht. Deshalb gehört die Symbolform gänzlich zur sinnenhaften Formenwelt. Denn die Innenwelt des Geistigen ist selbst schon zu sehr dem Jenseitigen zugewandt, zu sehr der Gesetzlichkeit und Andersartigkeit entzogen, um Stätte des Symbols sein zu können. Ideen sind keine Symbole. Symbole gibt es nur im Bereich des Sichtbaren und Greifbaren.

LeerEs ist doch sehr bedeutsam, daß die größte Aussage über die Symbolkraft des Lichtes nicht in den Überlieferungen und heiligen Büchern einer animistischen oder pantheistischen Naturreligion enthalten ist, sondern im neuen Testament. „Gott ist Licht”. Diese Aussage wird gänzlich banalisiert und verdorben, wenn man ihren Realismus beseitigen und durch eine „richtigere” Ausdrucksweise ersetzen wollte; wenn man etwa sagen würde: das Licht „bedeutet” Gottes Wesen. Aber wir evangelischen Menschen haben mit erschreckender Gänzlichkeit die Fähigkeit verloren, im Licht das Wesen Gottes wirklich zu sehen. Wir verdünnen den Gehalt eines so kühnen, so starken Wortes so lange durch unsere exegetischen Methoden, bis es erträglich und genießbar geworden ist. Statt dessen wäre es demütiger und richtiger, dieses Wort als Weisung aufzunehmen und für Gottes Offenbarung nicht nur im Bereich des Herzens sondern ebenso im Bereich der Sinne empfänglich zu sein.

LeerWenn wir nach dem üblichen exegetischen Rezept der „Vergeistigung” verfahren, indem wir etwa sagen „Gott ist wohl Licht; aber nicht das eigentliche Licht, das unsere Augen sehen, sondern das uneigentliche Licht, das unsere Herzen sehen”, dann verfälschen wir den eigentümlichen Sinngehalt eines so magisch mächtigen Wortes und verfälschen ebenso den Sinngehalt eines magisch mächtigen Geschehens, das als Licht unmittelbar unsere Sinne bannt. Aber wir haben gar kein Recht, das Licht als Bild inwendiger geistiger Werte zu verwenden, wenn wir nicht im Licht selbst, in dem Licht, das unsere leiblichen Augen wahrnehmen, das Geheimnis schauen, das es befähigt, zum Gleichnis des Geistes zu werden. So ist es unsere Aufgabe, die Symbolkraft des Lichtes für das Wesen Gottes unmittelbar mit unseren Sinnen und ohne den Umweg umdeutender Vergeistigungsprozesse in uns aufzunehmen. So wie die Jünger Jesu die Wunder ihres Meisters unmittelbar mit ihren Augen und Ohren aufnahmen, so sollen wir das Lichtgeschehen des Tages von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unmittelbar als ein schöpferisches Handeln Gottes: als  W u n d e r  mit unsern Sinnen erfahren.

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LeerAber diese Erfahrung ist nur einer erlösten Sinneswahrnehmung möglich. Wir bedürfen der neuschaffenden Erlösung durch den Geist der Liebe Gottes in Christus Jesus nicht nur für unsere Seele, sondern ebenso für unsere Sinne. Der Friede Gottes soll unsere Sinne ebenso wie unser Herz bewahren in Christus Jesus. Wenn die Liebe des Erlösers den inwendigen Menschen von Tag zu Tage erneut, daß er als eine neue Schöpfung aus ihr hervorgeht, dann wird dieses Erlösungswunder gleich der Heilung des Blindgeborenen sich des Bereichs der Sinne bemächtigen. Als der Auferstandene sich den beiden Jüngern in Emmaus in Brot und Wein austeilte, wurden ihre Augen aufgetan. Der Seherblick des Herzens verwirklichte und vollbrachte sich unmittelbar im Sinnenblick des Auges. Das ist die Gläubigkeit erlöster Sinneswahrnehmung. Sie bedarf keiner Vergeistigungen durch gedankliche Umdeutungen. Sie ergreift das Wunderbare unmittelbar durch geist-erhellte Sinneswahrnehmung. Sie begreift das Geheimnis nicht durch das Denken, sondern durch das Schauen.

LeerDiese Erlösung der Sinne ist gerade beim Gesichtssinn eine so große Verwandlung des Sehens, daß der Schauende nun erst wahrhaft sich als „Seher” empfindet und den Zustand des vergangenen, ungläubigen Sehens der Dinge nur als Blindheit bezeichnen kann. Und wie wird die Verwandlung in ihrer ganzen Gewalt gerade in der Wahrnehmung des Lichtes erscheinen, das des Auges Leben ist und in ihm das Schauen erweckt und erlöst! Einen der schönsten Berichte vom erlösten Schauen des Lichten bringt das Johannesevangelium in der Erzählung, wie die Jünger Jesu nach einer Nacht vergeblicher Mühe am Ufer des Sees Genezareth den auferstandenen Herrn schauen, als die Sonne aufging. „Da es aber jetzt Morgen ward, stand Jesus am Ufer”. Der Morgenglanz tat ihre Augen auf, daß sie sehend wurden. Das Licht der Frühe weckte im Sehen der Sinne das Sehen der Seele. Da sahen sie am Morgenufer den Auferstandenen.

LeerDas ist für ein erlöstes, gläubiges Schauen des Lichtes das gänzlich und allein Entscheidende: daß wir ohne den Umweg vergeistigender Umdeutung mit sinnenhafter Unmittelbarkeit die Symbolkraft des Lichtes für das unsichtbare und unzugänglich erhabene Wesen Gottes wahrnehmen; daß der  E r s c h e i n u n g s c h a r a k t e r  des Lichtes uns mit unvermittelter elementarer Sinnenhastigkeit deutlich wird. Erst in zweiter Linie wird es dann für uns bedeutsam sein, eine Entfaltung dieser Symbolkraft in den verschiedenen Stadien und Arten des Lichtes deutend zu erleben. Im  M o r g e n l i c h t  wird der Erscheinungscharakter des Lichtes, das Licht als Anbruch, als Aufgang aus dem Geheimnis der Nacht, den Blick am stärksten bannen. Wir schauen nicht die normale Naturhaftigkeit, sondern das  W u n d e r  des Sonnenaufgangs, wenn wir in ihm das Machtgebot der Schöpfung vernehmen, das in jedem Sonnenaufgang sich ereignet, so ursprünglich, so voller Anbeginn, wie am ersten Schöpfungstag: „Und Gott sprach: es werde Licht! Und es ward Licht!”

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LeerDeshalb bestatten wir unsere Toten mit dem Angesicht nach Osten. Im Todesdunkel des Nichtseins erscheint ihnen der Aufgang aus der Höhe, und das Lichtgebot der Schöpfung verwandelt die Nacht in den Tag, das Nichtsein in ein neues, auferstandenes Dasein. Und deshalb bauen wir unsere Kirchen mit dem Chor nach Osten und lösen seine Wände auf in breiten Lichtpforten: in das Dunkel des vergänglichen Menschenwesens, das am Ort und im Schatten des Todes wohnt und von den Finsternissen der Schuld und des Leides bedeckt ist, fällt das Machtwort des Lichtgebots, der Aufgang der Offenbarung, der Sonnenaufgang erlösender Liebe des Vaters in seinem Sohn. und wenn wie unser Gesicht zu diesem Morgen wenden, dann wird uns der Ursprung zur Vollendung, dann schauen wir dem Morgen der Zukunft entgegen, und unser Schauen ist gespannt und ausgerichtet auf den Tag des Menschensohnes. Und noch einmal sei es betont, daß solche Symbolschau nicht intellektuelle Umdeutung und Vergeistigung sein darf, - sonst ist sie im Kern verfälscht - sondern elementare Lichtschau erlöster, gläubiger Sinnenhaftigkeit.

LeerIn verwandter Weise wird die  M i t t a g s f ü l l e  d e s  L i c h t e s , die den reifen Tag in tausend und abertausend Farbwundern entfaltet hat, zum Symbol der unerschöpflichen Fülle im Geheimnis Gottes.

LeerUnd wenn im  S o n n e n u n t e r g a n g  das Licht verlischt, dann sollten wir wohl nicht so sehr an den Untergang alles Lebens im Tode denken, sondern an jenen Tod, der unser Leben mit Christus in Gott verbirgt. Gottes Erscheinung kehrt in sein Geheimnis zurück. Auch als der Erscheinende ist er der Unsichtbare, auch als der Offenbare der Unerforschliche. Aber er nimmt unser Herz und unsere Sinne, unser inneres und äußeres Leben mit hinein in die Nacht seines Geheimnisses, das unseres Wesens Grund und Ziel ist. Die Engel tragen das Kind empor in den Schoß des Vaters, daß es dorthin heimkehre, woher es seinen Ursprung nahm. Die Leuchten der Nacht, der Mond und die Sterne, sind in seltsamer Symbolkraft feurige Siegel auf diesem Geheimnis. Ihr Licht ist keine Vernichtung der Finsternis, sondern Erscheinung ihres verborgenen Sinnes.

LeerUnd nun wird auch der Rhythmus des Lichtes, der stets erneute Aufgang der Sonne, zum Symbol des ewig schaffenden Gottes. Es ist sehr bedeutsam, daß unser inwendiger Mensch „von Tag zu Tage” erneuert wird, und Gottes Güte „alle Morgen neu” ist. Nicht das Beharren in unveränderlicher Dauer, sondern die unerschöpfliche Erneuerungskraft wird zum Zeugnis des Ewigen. Und das Erlösungssymbol des erwachenden Lebens, das vom Schlaf aufsteht und die Augen dem Lichte auftut, vollendet sich zum Symbol der Auferstehung.

Das Gottesjahr 1932, S. 57-61
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-27
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