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Christus und die Schöpfung
von Adolf Köberle

LeerEin lieber Freund, schwäbischer Theologe in älteren Jahren, erzählte mir einmal, wie er gleich beim Beginn seiner praktischen Amtstätigkeit eines Tags in große Bedrängnis kam. Auf dem Bauerndorf, das ihm seine Behörde zum Dienst anvertraut hatte, bestand noch die schöne alte Sitte, daß die Landleute vor dem ersten Ernteschnitt in aller Morgenfrühe in die Dorfkirche kamen, um sich hier den göttlichen Segen für ihre sommerliche Arbeit zu erbitten. Da standen sie nun vor ihm, die Männer mit ihren Sensen und die Frauen mit ihren Rechen im Lichte der frühen Sonne und warteten auf ein Wort, das die Brücke schlagen sollte von Christus zu ihrem erdhaften Schaffen. Aber für solche Aufgaben hatten einen die Hochschulen nicht ausgerüstet. Man hatte Kant und Fichte gelesen und die von ihnen beeinflußten großen theologischen Meister gründlich studiert. Man wußte von daher, daß der Wille zur sittlichen Persönlichkeit ausreifen soll, man suchte in der verborgenen Innerlichkeit des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls erlösende Begegnungen mit Gott und Christus zu erfahren, aber über die Verbundenheit vom Reich der Natur zur Welt der Gnade hatte man so gut wie nichts gehört. Ja es war einem eher verboten worden, diese beiden Gebiete, die äußere Erscheinungswelt und die geistige Innenwelt, zusammenzuschauen, nachdem Naturwissenschaft und Theologie sie endlich in einem, wie man meinte, überaus glücklichen Schiedsvertrag gründlich voneinander getrennt hatten. So war es denn nicht anders möglich, als daß man der Aufgabe einer „Sensenpredigt” nicht von der praktischen, aber von seiner weltanschaulichen Vorschulung her reichlich hilflos gegenüberstand.

LeerDie Verlegenheit, die in dieser Erinnerung eines schwäbischen Albvikars zum Ausdruck kommt, ist nur ein ganz kleiner, freilich sehr bezeichnender Ausschnitt aus einer viel umfassenderen, furchtbar schweren Wirklichkeitsnot, unter der wir alle bewußt oder unbewußt gemeinsam zu leiden haben. Wir haben den Zusammenhang zwischen Gott und Natur, zwischen Christus und der Schöpfung verloren. Es sind zwei Reiche daraus geworden, die kühl beziehungslos nebeneinander stehen, wenn nicht gar feindselig wider einander im Streit liegen. Wir meinen, wenn wir zu Christus kommen wollen, dann müßten wir um des Evangeliums willen alles leiblich-erdhafte Geschehen von vornherein ausschalten, für immer fliehen und verachten. Die „Frommen”, so ist doch die Stimmung in der Welt weithin geworden, und das gewiß nicht ohne unsere Schuld, dürfen sich nicht mehr freuen an der Wohlgestalt des Leibes, an dem gehörten und geschauten Reichtum der Kunst, sie müssen die Augen schließen vor den Wundern und Herrlichkeiten des Kosmos, damit die Seele durch diese schönen Bilder nur ja nicht verwirrt wird, denn sie ist ja doch das allein Wertvolle und nur ihr hat all unsere Pflege und Sorgfalt zu gelten. Drosselt man aber die Natur so vom Leib der Christuswirklichkeit ab, dann ist es nicht zu verwundern, wenn das abgehauene Glied verdorrt. Die Schöpfung wird zum mechanischen Gebilde, zur Maschinenfabrik, die man rein technisch verwaltet ohne Ehrfurcht und Dankbarkeit. Sie wird ein geschlossener Kräftehaushalt, in dem man jedes Geschehen rational vorausberechnen kann, wo kein Spielraum mehr bleibt für eine Bezeugung göttlicher Macht und Hilfe.

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LeerSo geht durch das Denken und Leben unserer Zeit eine unselige Zerrissenheit zwischen christlicher Erfahrung, die sich ausschließlich in der Innerlichkeit des Menschen, in Geist, Wille und Seele vollziehen zu müssen meint, und einer völlig profan gewordenen Welt- und Naturbetrachtung. Weil aber die beiden gewaltsam zerteilten Reiche einander in Wahrheit viel näher sind, als es unsere sezierende Kunst zugeben will, darum ist es ganz unvermeidlich, daß es an allen Ecken und Enden fortwährend zu Grenzstreitigkeiten und feindseligen Spannungen kommt. Es klafft der Riß im Leben des Akademikers, der im Herzen noch ein Christ sein möchte, aber im Kopf ein Heide ist und sein muß, weil es ihm das Weltbild einer entgotteten Wissenschaft so vorschreibt. Immer wieder strömt vom Gehirn der Eiseshauch der Kritik zum Herzen und droht, die Kraft des Glaubens zu erfrieren. Es wird diese Spannung offenbar, wenn am Krankenbett sich Arzt und Seelsorger begegnen, wenn der Religionslehrer dem Chemieprofessor im Unterrichtszimmer Platz macht oder wenn an den Sonntagen Scharen sportfreudiger Jugend an den geöffneten Kirchen vorbeiwandern. Ja schon bei jeder Mahlzeit kann diese Not aufbrechen in Gestalt der Frage, ob es ehrlich ist, Christus beim Tischgebet für das tägliche Brot zu danken, wo die Erde doch „aus sich selbst” die Nahrung hervorbringt und die menschliche Wirtschaft und Tüchtigkeit ja das Übrige zu ihrer Vervollkommnung leistet.

LeerKommt man unter dem schmerzlichen Eindruck dieser Zerrissenheit unseres Lebens in die Welt der Bibel, so kann man dort eine ganz beglückende Entdeckung machen. Hier kennt man diese künstliche Halbierung der Wirklichkeit in eine mechanisch-technische und in eine innerlich-göttliche Sphäre überhaupt nicht, sondern beides wird im Lichte der letzten Wahrheit ständig aus das innigste zusammengesehen. Der Leib ist nicht weniger Offenbarung göttlicher Schöpfermacht als die Seele, und die Natur steht Gott so nah wie der Geist. Man kommt Gott mit der Verdammung der Erde, mit der bloßen Flucht in das Reich der Empfindungen und Gedanken noch nicht näher. Gott will in den Werken seiner Kreatur erkannt und geliebt, geehrt und geheiligt werden und er hat keine Verheißung für die glaubenslose, undankbare Verachtung seiner sichtbaren Gaben gegeben. „Alle Kreatur ist gut und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird”.

LeerEs wird immer ein vergebliches Bemühen bleiben, Jesus und seinen Schüler Paulus, auf den das eben genannte große Wort zurückgeht, zu weltflüchtigen, naturfeindlichen Asketen zu machen. Wie sind die Gleichnisse in den Evangelien gesättigt mit den reichen Farben der Anschauung! Das Brot und das Salz, das Wasser und das Samenkorn, das Licht und seine Kraft im Weinstock, die Vögel und die Blumen auf dem Felde, in all diesem Segen sieht Christus klare, helle Zeichen abgemalt, in denen uns Gottes Größe und Liebe sichtbar begegnet, mit denen er unseren Kleinglauben täglich neu beschämen will. Man hat gemeint, diese Fülle der Gleichnisse, vor allem auch die Stiftung schlichter Naturzeichen zu Sakramenten, erklären zu können aus der blühenden Phantasie des orientalischen Lebensgefühls oder aus dem Streben nach einer möglichst plastischen Darstellung der Gedanken. Allein das sind wirklich platte, oberflächliche Auskünfte, die man damit gibt, und wir verbauen uns dadurch selber die kostbarsten Erkenntnisse. Wir sollen und dürfen daraus wirklich etwas Besseres lernen und erfahren, wie nämlich Gott immer ein leibgeistiger Schöpfer ist und wie er stets himmlischen und irdischen Segen zugleich in sein Werk hineinlegt.

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LeerFreilich, wie uns beides, Geist und Gestalt, Natur und Seele, mit Gott verbinden kann und verbinden soll, so kann uns auch beides von ihm trennen und es vollzieht sich diese Zertrennung ja auch immer wieder in furchtbarer Weise. Der ungebändigte Rausch des Blutes und die funkelnde Pracht des Goldes können uns ebenso besessen und eigensüchtig machen wie die argen, geheimen Gedanken des Herzens. Sinnlichkeit und Geistigkeit, mit denen wir gleichermaßen den Schöpfer loben könnten, unterliegen beide unaufhörlich der Verführung und dem Mißbrauch und müssen darum auch gemeinsam den Fluch ihres Abfalls von Gott tragen. Nicht nur der Geist eines Menschen verfinstert sich, wenn er seiner ewigen Heimat entflieht und sich gegen sie empört, auch unser Leib bekommt zu einem kräftigen Teil dieses Elend, dieses Aus-der-Heimat-sein mitzutragen, ja es wird ihm oft der Hauptanteil der schuldigen Last aufgeladen, Krankheit und Schmerz, Siechtum und Schwäche und zuletzt in unterschiedsloser Schicksalsgemeinschaft der Tod.

LeerChristus hat gerade für diese Nachtseite der Natur einen Tiefenblick gehabt, wie wir ihn alle nur von ferne erreichen. Sünde und Krankheit, Gottwidrigkeit und Todesverhängnis, kosmische Empörung und Kreaturenleid waren für ihn nicht zusammenhangslose Glieder. Er sah, wenn auch nicht auf das einzelne Menschenleben ausrechenbar, im Weltgeschehen einen verborgenen, unheimlichen Zusammenhang von Schuld und Übel, zwischen dem sittlichen und dem physischen Jammer dieses Daseins, und er ist immer wieder in Liebe und heiliger Empörung erschrocken, wenn ihm in zusammengeballter Wucht in kranken Leibern, an den Grabstätten oder auch in den rasenden Wogen auf dem See die zerstörerischen Auswirkungen der verdorbenen guten Schöpfung Gottes begegneten. Aber sein Wirken auf der Erde hat sich ja nicht in einem herzlichen Mit-leiden mit dieser alles und alle umfassenden Not erschöpft. Das Bild der Evangelien zeigt uns klar, wie er unermüdlich im Aufblick zu Gott gerungen hat mit Krankheit und Ungehorsam, mit dem Tod und mit den widrigen Elementen im Kosmos und wie er gequälte, sorgenbeladene Menschen der Herrschaft dieser harten Mächte und Gewalten wieder entrissen hak. Das von der Schuld gelähmte Gewissen spricht er frei und siehe da, auch die lahmen Glieder des Leibes fangen an sich wieder zu bewegen. Selbst von der beschmutzenden Knechtschaft der Sünde frei, wagt er auch unserem grimmigsten Feind, dem Tod, noch seine Beute abzujagen.

LeerMan hat eine zeitlang versucht, gerade diese heilenden Wirkungen, die von Christus auf den Leib der Menschheit und der Schöpfung ausgingen, als legendär zu erweisen und ihre geschichtliche Tatsächlichkeit zu bestreiten. Nun darf ja gewiß eine ernsthafte Forschung jeden Evangelientext auf die Zuverlässigkeit der Überlieferung offen prüfen. Aber man hat heute beim Rückblick auf diese kritische Arbeit doch weithin stark den Eindruck: es hat hier auch oft an den nötigen wesentlichen Voraussetzungen über das innige Verhältnis von Gott und Natur, von innerer und äußerer Erdennot gefehlt Man dachte dualistisch im Geiste der griechischen und der kantischen Philosophie und in dieser Luft war kein rechter Raum für die Liebe Gottes zu seiner Kreatur, war keine Stätte für die Heilung des Gichtbrüchigen und für die Stillung des Sturms. Heute fangen wir, nicht zuletzt unter dem Eindruck der gewaltigen Umwandlungen auf dem Gebiet der Medizin und der Seelenheilkunde, langsam wieder an, die Verklammerung von Weltschuld und Weltleid, von Vergebung und Genesung, von Gnade und Schöpfung zu begreifen und lesen darum auch die Teile der Evangelien, die von der Erlösung unserer leiblichen Not handeln, wieder mit viel mehr Verständnis und mit einem ganz anders hungrigen Verlangen, als wir es vielleicht früher konnten.

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LeerAber gerade, wenn wir eine solche gegenseitige Verbundenheit und Einwirkung von Innen- und Außenwelt aufeinander zum Fluch oder zum Segen wieder für möglich halten, dann erhebt sich auf diesem Hintergrund erst die eigentliche Entscheidungsfrage. Wer war dieser Jesus Christus, daß er die Dämonen aus erschöpften Leibern vertreiben konnte, daß er Wind und Wellen zu gebieten wagte und den winterlichen Todescharakter dieser Welt sieghaft angriff? War er ein Mensch von einer besonders kraftvollen suggestiven Begabung? Standen ihm in ungewöhnlichem Ausmaß die Kampfmittel der Hypnose und der Magie zur Verfügung oder versagen diese psychologischen Erklärungskünste angesichts seiner Person? Diese Frage läßt sich rein theoretisch nicht mehr entscheiden. Solange man ihm gegenüber eine uninteressierte Zuschauerhaltung einnimmt, kann man auf solche Erklärungsversuche in seiner Ratlosigkeit wohl verfallen. Aber dann kann eine Stunde in unserem Leben kommen, wo uns diese Künste zur Deutung seines Lebens und Wirkens nicht mehr genügen. Wir hören, wie die Stimme Christi uns mit einer solchen überführenden Klarheit richtend und rettend ruft, daß wir ihr innerlich nicht länger mehr widerstehen dürfen. Wir können dann die gewaltigen Worte aus seinem Munde voller Hoheit und Majestät nicht mehr überhören, wie ihn Gott gesandt hat, daß er die entstellende Fluchlast der Sünde von der Welt wegnehme, daß er neues Leben in dem kranken Leib dieser Schöpfung anbrechen lasse, daß er werde der Anfänger und Vollender einer neuen Weltgestalt. Wir fassen angesichts dieser Botschaft, die durch so viel heilendes Wirken in einem liebreichen, leidvollen Leben wundersam versiegelt und bestätigt wird, die Gewißheit: Gott hat in Christus der Menschheit ihren Mißbrauch an der Schöpfung vergeben. Er hat das ewige Wort, durch das alle Dinge von Anbeginn her geschaffen sind, noch einmal neu in diesen Kosmos segnend und umschaffend hineingesprochen und hat uns damit eine fröhliche Hoffnung gegeben, daß der Friedhof dieser Welt noch einmal einer großen Auferstehung entgegengehen soll.

LeerAuf alten Bildern findet man gelegentlich Christus dargestellt, wie er eine Weltkugel in der Hand trägt. Es ist das eine wundervoll tiefe Wahrheit, die die Maler einer früheren Zeit damit an uns weitergeben. Diese Welt hat in sich selbst keine Kraft, sich zu helfen. Sie unterliegt ständig einem unheimlichen Fallgesetz. Sie ist in ihrem physischen wie in ihrem geistig-sittlichen Bestand unaufhörlich bedroht auseinanderzubrechen, wenn sie nicht von starken schützenden Händen getragen wird. Wir können uns nicht selber das Leben geben und können uns und die Welt nicht eine Stunde selber erhalten, wenn uns nicht eine ganz große, vergebende Liebe geschenkt wird, in deren starken Schutz wir geborgen sind.

LeerUnd noch an ein anderes Bild erinnern wir uns, das man freilich nicht in den Galerien und Pinakotheken findet, sondern das schlichte Bauernfrömmigkeit da und dort geschaffen und aufgestellt hat. Wir meinen das Kreuz in der Landschaft, das Bild des Cruzifixus, dem man auf der Wanderung in reifenden Fluren und auf Bergeshöhen begegnen kann. Wem es gefällt, der mag dabei von abgöttischem Bilderdienst reden oder mit einem Goethe sich darüber ärgern, daß man selbst in der Pracht der Natur noch peinlich an dieses unästhetische, schmachvolle Bild der Niedrigkeit erinnert wird. Aber es ist uns gewiß besser, wir tun das nicht und lassen uns auch durch einen solchen stillen Gruß am Wegrain daran mahnen und erinnern, daß Christus die gefallene Schöpfung Gottes geliebt und sich für sie in den Tod gegeben hat. Im Lichte dieser Hingabe, die unser Herz beschämt und verwandelt, dürfen auch wir die Natur dann wieder lieb haben, so wie Kinder den Garten, der beim Vaterhaus liegt, lieb haben. Im Schatten des Karfreitags brauchen wir uns vor den verführerischen und zerstörerischen Mächten des Kosmos nicht mehr zu furchten. Wir dürfen die Erde mit neuen Augen ansehen und ihre Gaben mit gereinigten Händen dankbar und fröhlich gebrauchen.

Das Gottesjahr 1932, S. 37-42
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-27
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