|
von Ludwig Heitmann |
Die Unterscheidung zwischen Menschen, die ein lebendiges Verhältnis zur Natur haben, und solchen, die ihr gleichgültig und fremd gegenüberstehen, ist nicht nur oberflächlich, sondern wirklichkeitsfremd. D e r M e n s c h h a t i m m e r e i n V e r h ä l t n i s z u r N a t u r . In ihm entscheidet sich sein Schicksal, seine Stellung zur Tiefe des Daseins, seine Stellung zu Gott. Gerade in seiner Naturfremdheit ist dies Schicksal gegenwärtig. Der Kampf um das rechte Naturverhältnis ist heute der Schicksalskampf der Menschheit geworden. Die Stufen der menschlichen Haltung gegenüber der Natur sind zugleich Stufen der Gotteserkenntnis; in ihnen spiegelt sich des Menschen Verlorenheit und Rettung. Wir bringen uns nur selten zum Bewußtsein, daß jeder Einzelmensch, wie auch die Menschheit als ganze, die verschiedensten Stadien des Naturverhältnisses durchschreitet, die ruhig nebeneinander lagern, aber auch im schärfsten Kampfe gegeneinander stehen können. Drei Stadien, zwischen denen die mannigfachsten Zwischenstufen liegen, haben sich deutlich heraus. Die p r i m i t i v e S t u f e , auf der der Mensch, selbst noch ein unbewußtes Stück Natur, völlig eingebettet ist in das Naturleben, ist uns in ihrer Ungebrochenheit heute nicht mehr zugänglich, obwohl jeder Mensch sie in der ersten Kindheit durchschreitet, obwohl sie auch noch in ungezählten nachwirkenden Erinnerungen das ganze Leben durchzieht. Wir können sie in den primitiven Völkern wohl noch forschend betrachten, aber nicht mehr voll mit durchleben. Der Mensch der Kulturwelt steht heute der Natur gegenüber, sie betrachtend, mit ihr kämpfend, sie erobernd, benutzend, vergewaltigend, ordnend, gestaltend, verschönernd. Wenn er auch immer noch aus der Natur und von ihr lebt, so ist er doch durch das Gesetz der Freiheit von ihr geschieden. Diese zweite, die g e s e t z l i c h e L e b e n s s t u f e , die sich in einer ungemein langen und reichen Entwicklung verwirklicht, scheint heute an ihrem Kulminationspunkt zu stehen. In dem technischen Zeitalter, das der Natur wesentlich erobernd und ausnutzend gegenübersteht, beginnt sie sich zu überschlagen. Die Scheinherrschaft der Technik über die Natur bedeutet zugleich die weiteste Entfernung des Menschen von ihrer ursprünglichen Tiefe und Mächtigkeit, ja sie zerstört im Menschen selber den Naturgrund. Der technische Mensch, der triumphierend über der Natur steht, hat im Grunde nur noch ein abstraktes, kein lebendig-seinsmäßiges Verhältnis mehr zur Natur. Dabei ist zu beachten, daß in allen Stadien dieser zweiten Lebensstufe Formen der Rücklenkung zur primitiven Stufe wirksam sind, unter denen heute die romantisch-mystische die vorherrschende ist. Indessen drängt, gerade in ihrem Endstadium, diese zweite Stufe des Naturverhältnisses über sich hinaus. Der Mensch kann, weil er selber ein Glied der Natur ist, ihr gegenüber nicht im abstrakten Raume verharren. Wird die zivilisatorische Vergewaltigung der Natur zur blinden Herrschaft, so rächt sich die Natur, indem sie wie die andringende Flut die künstlich aufgeworfenen Dämme zerbricht und anfängt, Menschen und Völker dämonisch zu beherrschen. Die primitive Stufe kehrt in der Verzerrung wieder: dumpfe Regungen des Blutes, okkulte Mächte, dämonische Triebe brechen aus der Tiefe des Lebens. Eben das erleben wir heute in der technisch überspannten Westwelt. Mitten in dieser Entwicklung aber bahnt sich leise an eine zweite, wesentlichere Form der „Rückkehr zur Natur”, die weder Barbarisierung noch Romantik ist, in der sich vielmehr eine d r i t t e S t u f e d e s N a t u r v e r h ä l t n i s s e s verwirklicht. Die primitive und die abstrakt-gesetzliche Lebenshaltung werden aufgehoben in einer wesentlich neuen: d i e N a t u r w i r d z u m G l e i c h n i s . Auf dieser Stufe einer zweiten Schöpfung wird sie erst zu ihrem eigentlichen Wesen erlöst, das auf den beiden früheren Stufen wohl geahnt, aber nicht erfüllt war; sie gewinnt ihre volle Lebendigkeit und Mächtigkeit nicht nur zurück, sondern entfaltet sie erst zur Vollendung. Wenn der technische Mensch unserer Tage etwa in das Waldgebirge des Harzes geht - in der Regel erledigt er das auch schon im Auto - , so findet er schon nicht mehr diesen Ur-Wald vor sondern ein nach ökonomischen, biologischen, hygienischen, ästhetischen Gesichtspunkten durchgeformtes Gebilde, in dem schon die Entfernung der einzelnen Bäume voneinander bis auf den Zentimeter nach forsttechnischen Vorschriften berechnet ist, zu schweigen von den menschlichen Kunstgebilden, die sonst hineingebaut worden sind. Er sucht auch garnicht mehr „seine Brüder, die Bäume”, sondern er nutzt die hier lagernde Lebenskraft nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten für die Papierfabrikation aus und verwandelt sie so in zivilisatorische Werte, oder er füllt nach ärztlicher Vorschrift seine Lungen für bestimmte Wochen mit den Ausatmungen der Blätter, oder er treibt nach Lehrsystemen botanische Studien. Zuweilen überfallen ihn noch in der Einsamkeit dieser Wälder, die er allerdings, da sie auf den Wanderkarten nicht rot angestrichen sind, meistens meidet, Urgefühle der primitiven Periode, er fängt dann an, romantisch zu schwärmen, in ganz unbewachten Augenblicken vielleicht gar zu singen: „Wer hat dich, du schöner Wald” - aber das sind Atavismen, deren er sich in menschlicher Gesellschaft strengstens enthält. Erstaunlich, daß in solcher Zeit hier und da einsame Menschen wachsen wie etwa der frühvollendete Karl Thylmann, die uns, - übrigens mit allen Mitteln neuzeitlich-technischer Kunst - Bäume und Waldstücke darstellen, aus denen die Geister der Urwelt unheimlich herauszubrechen scheinen, hinter denen eine ganz neue Wirklichkeit spürbar wird: nun erst offenbart der Wald sein tiefstes Schöpfungsgeheimnis, das den kämpfenden und sterbenden Menschen ganz in sich hineinnimmt. Nun erst fangen wir an zu ahnen, was der Wald in seiner Wirklichkeit ist, nicht dumpf brütende Natur, nicht Mittel für menschliche Zwecke, sondern Offenbarung des göttlichen Geheimnisses. Erst in der zweiten Schöpfung erfüllt sich der Sinn der ersten. Erst seitdem Christus die zweite Schöpfung erlösend in die erste trug, ist solches Schauen der Natur als Gleichnis aufgeleuchtet. Das Gleichniskapitel des Matthäus gibt Zeugnis von dieser Wandlung im Verhältnis des Menschen zur Natur. Hier tritt das Naturgeschehen, das die Menschen immer gesehen haben und immer sehen werden, an das sie in ihrem schweren Tagewerk gebunden sind, in voller Ursprünglichkeit vor sie hin. Aber nun erst, seitdem Christus darin steht und das Wort über die Natur spricht, offenbart es seine wirkliche Tiefe: „Euch ist es gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs vernehmet.” Die Saat der Felder bleibt Saat - aber hinter ihr wird nun sichtbar das Geheimnis der Welt, das eine Ziel, in dem alles Geschehen Sinn und Erfüllung findet. Seit den Urtagen ist es so gewesen, und bis ans Ende der Tage wird es so sein. Das mühevolle Tagewerk des Menschen ist in diesen Naturlauf hineingebettet. Wie dumpf und schwer lastet doch dies ewig gleiche Tagewerk des Ackermannes, der warten muß auf die köstliche Frucht der Erde und geduldig darüber sein muß, bis sie empfahe den Frühregen und Spatregen, auf dem Menschen; wie hoffnungslos wird dieses Einerlei, wenn es wie das Göpelwerk des Landmannes endlos in sich selber kreist! Was besagen alle technischen Erleichterungen, alle Versuche erfinderischen Menschengeistes, um aus diesem hoffnungslos in sich selbst schwingenden Kreise herauszubrechen! Siehe, da bricht hinter diesem in stummer Trauer dahingleitenden Geschehen das Licht einer anderen Welt auf! „Das Reich Gottes hat sich also...”, „...die Ernte ist da!” Anfang und Ende weisen über sich selbst hinaus in ein heiliges Geschehen, das alle Sichtbarkeit der Natur in sich hinaufzieht und ihr Erfüllung verheißt. Das mühselige Erdengeschehen ist nur Vordergrund, vergängliches Gewand, sterbende Hülle, es soll vollendet werden in der neuen Schöpfung Gottes. Die sichtbare Natur ist für die Sichel bestimmt, zum Sterben berufen, daß ein neues Schöpfungswerk aus seinem Sterben erwachse. „Es wird gesäet verweslich, und soll auferstehen unverweslich.” Wo dies Wort der neuen Schöpfung gehört ist - wer Ohren hat, zu hören, der höre! -, da hat die Natur ihren Sinn geändert, da ist sie in die heilige Wandlung getreten, da hat ihre Erlösung zum Wesen hin begonnen, da leuchtet über ihr eine ewige Erfüllung. Daß sie zum Gleichnis werden durfte, ist erlösende Gnade. „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselbigen eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute stehet und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen?” Das erst ist die w i r k l i c h e Lilie; nicht die wild wachsende Feldblume, die das Naturkind an sich reißt, nicht die künstlich gezüchtete Blume, die in Gärten und Treibhäusern mit menschlichen Mitteln zur anspruchsvollen Schönheit getrieben wird, sondern die unter Gottes Sonne still wachsende Blüte, die in sich die geheimnisvolle Beziehung zum Altare Gottes trägt, auf dem der ewige Gottessohn die Frucht des Grases und des Weinstocks wandelte zu Zeichen einer ewigen Erfüllung. Das Gottesjahr 1932, S. 33-36 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |