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von Wilhelm Stählin |
Alle Aussagen über die Heilige Schrift bewegen sich in einem seltsamen Zirkel, und diesem Kreislauf ist nicht zu entrinnen. Die Bibel ist die „Heilige Schrift”, Ur-kunde und Zeugnis der Offenbarung Gottes in der Geschichte; sie ist darum die Quelle und Norm unseres Glaubens. Wo anders als in ihr empfangen wir das Bild des Sohnes, in dem wir den Vater schauen dürfen? Wo anders dürften wir uns Rat holen, um zu wissen, wie Gott den Menschen begegnet und wie wir ihm begegnen sollen, um zu wissen, wie wir von Sünde und Gnade, von Tod und Leben, von Erlösung und Ewigkeit recht reden sollen? Die christliche Kirche hat immer wieder diese Autorität der Heiligen Schrift als die selbstverständliche Voraussetzung ihres eigenen Daseins anerkannt. Aber es ist nicht nur die schmerzliche Erfahrung unseres Geschlechtes, sondern eine Erfahrung, die - wenn auch in verschiedener Weise - zu allen Zeiten gemacht worden ist, daß dies heilige Buch keineswegs zu jedem Menschen mit solch bezwingender Eindringlichkeit redet. „Wort Gottes” und Bibel sind nicht eines und dasselbe. Die Bibel ist eine geschichtliche Größe, an einem bestimmten Ort in der Zeit .entstanden; man kann ihren Inhalt beschreiben und sieht ihre Grenze. Wort Gottes aber ist ein lebendiges Geschehen; es ist kein Gegenstand, sondern ein Ereignis; so sehr ein Ereignis, daß Luther in Seiner Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes” Gottes Wort mit einem fahrenden Platzregen verglichen hat, „der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist”. Dieses Wort Gottes kann man nicht haben, sondern nur hören. Von diesem Wort Gottes gilt nach der Überzeugung der Reformatoren und nach der Erfahrung der Christenheit genau das, was die Augsburgische Konfession in ihrem 5. Artikel von dem Glauben sagt: „Der heilige Geist wirkt den Glauben, wo und wann er will, in denen, so das Evangelium hören”. Der heilige Geist macht, „wo und wann er will” denen, die die Bibel lesen, das geschriebene und gedruckte Wort des Buches zum Wort des lebendigen Gottes. - wie viele Menschen haben - zunächst vielleicht aus äußerer Gewohnheit - in der Bibel gelesen und es blieb bei dem Eindruck hoffnungsloser Fremdheit! Mögen die Worte allzu bekannt oder mögen sie allzu fremd sein, sie trafen nicht ins Herz, sondern regten im besten Fall den Verstand zur Auseinandersetzung an. Wir erleben heute in unerhörtem Ausmaß das Schicksal dieser Bibelfremdheit. Da ist vielleicht noch etwas von einem feierlichen Respekt vor dem würdigen Buch, dem man nicht zu widersprechen wagt, aber da ist nichts von lebendiger Bewegung, die von diesem Buch der ihren Ausgang nähme. Die Siegel, mit denen diese Buch verschlossen ist, vermag der fragende Geist nicht zu lösen. Der heilige Geist redet „wo und wann er will” in dem Menschen Gottes Wort. Ist das vollendete Willkür? Liegt es einfach in der unerforschlichen Gnadenwahl Gottes begründet, daß die Bibel für den einen zur lebendigen und bewegenden Autorität wird, den andern aber unberührt läßt? Dann hätte es keinen Sinn, sich um das Verständnis der Bibel zu mühen, dann wären auch alle die gänzlich bibelfremden Menschen, denen die Bibel stumm ist, damit entschuldigt, daß es Gott eben nicht gefallen habe zu ihnen zu reden. Aber liegt es nicht an ganz bestimmten inneren Voraussetzungen in den Menschen, ob die Bibel zum lebendigen Zeugnis der Wahrheit wird? Luther hat in seinen letzten Lebenstagen niedergeschrieben: „Es meine niemand, die Heilige Schrift genug geschmeckt zu haben, er habe denn 100 Jahre mit Propheten, mit Elias und Elisa, mit Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden geleitet.” Das heißt: Es kann niemand die Schrift verstehen, der nicht einen vertrauten Umgang mit der Sache hat, um die es sich in der Schrift handelt. So scheint es also ganz an der inneren Erfahrung zu liegen. Das innere Wort, das der Geist in der Seele wirkt und redet, scheint das eigentliche Wort Gottes zu sein und die Bibel fängt erst für die von dem Geist erleuchtete Seele zu reden an. ja; aber auch das ist wieder nur die eine Hälfte der Wahrheit. Denn es gilt ganz entschieden auch das Umgekehrte. Der Bibelleser findet in der Bibel nicht nur, was er selbst schon „aus Erfahrung” weiß; wehe ihm, wenn er nur die Bestätigung seiner eigenen Gedanken und seiner eigenen geistlichen Erfahrungen in der Bibel suchte! Wenn er wirklich die Bibel und nicht sich selber sucht, so steht das Wort der Schrift immer wieder vor ihm, wie der Mann mit dem Jakob ringen mußte, bis die Nacht vorüber ging. Was er bei Propheten und Aposteln, in den Psalmen oder in den Evangelien liest, sprengt immer wieder die Grenzen seines eigenen christlichen Lebens und wirft den Feuerbrand neuer und unerhörter Offenbarung in das Gebäude seines christlichen Denkens. Wie kann man erschrecken oder aufjubeln über ein Psalmwort, über eine prophetische Rede, über irgend einen Zug in dem Bild Jesu, das die Evangelien malen! Deswegen erschrecken oder aufjubeln, weil es uns gerade nicht bei uns selber festhält, uns nicht erlaubt bei uns stehen zu bleiben, sondern uns hineinreißt auf die Bahn des Geistes, der in alle Wahrheit leitet. Das ist nun der Kreislauf. Nur die innere Erfahrung öffnet das Siegel des Buches. Aber die innere Erfahrung reift zugleich und wächst über sich hinaus, empfängt ihr eigenes Urteil und ihre tröstliche Verheißung aus dem Wort der Schrift. Dieser Zirkel läßt sich nicht durch theologische Theorien auflösen, sondern er ist der echte Ausdruck des lebendigen Wechselspiels zwischen innerem Leben und geprägter Form, zwischen dem unberechenbaren Leben der Seele und der äußeren Autorität, zwischen dem Raunen des Geistes und der in das Wort geprägten Wahrheit. Sobald man eines der beiden Glieder in diesem Wechselspiel beseitigen oder unterdrücken will, leidet die Wahrheit Schaden. Jede der beiden Seiten kann, für sich allein genommen, zu einem Gefängnis werden, in das die lebendige Offenbarung verschlossen, ja zu einem Grab, in das das Leben selbst gebannt wird. Luther hat in seiner Zeit mit großer Schärfe gegen die Meinung gekämpft, daß der Mensch, von dem inneren Licht erleuchtet, des äußeren Wortes entraten könnte. Er hat gewiß manchem den er um solcher Gedanken willen Schwärmer nannte, unrecht getan. Er hat gewiß hin und wieder auch gegen echte innere Erfahrung die äußere gesetzliche Autorität des Bibelwortes ins Feld geführt. Aber es gilt nun auch das Umgekehrte: Auch die Bibel kann zum Grab der Wahrheit werden. Wer da meint in dem geschriebenen Wort der Bibel selber die geoffenbarte Wahrheit in Händen zu halten, der macht aus dem befreienden Zeugnis ein Joch der Seelen. Indem er sich an den Buchstaben klammert, widerfährt ihm selber, daß der Buchstabe tötet. Er tötet, indem er den Menschen bei dem Wort, bei der Formulierung, bei dem Gedanken, bei einer bestimmten geschichtlichen Gestalt festhält statt ihm die Augen aufzutun für das Land des Lebens. - Der Christus des Johannesevangeliums (5, 39) wirft im Streitgespräch den Juden ihren Unglauben vor : „Ihr suchet in der Schrift, weil ihr meinet darin das Leben zu haben; und sie ist es doch, die von mir zeuget.” Daran, daß sie die lebendige Gottesbotschaft, die in Christus vor ihnen steht, nicht vernehmen, daran wird offenbar, daß sie nie die Stimme Gottes gehört haben, daß sein Wort nicht in ihnen wohnt. Ihr Kultus des Buches hat sie gehindert das lebendige Wort der Wahrheit zu vernehmen. Die „Schriftgelehrten” sind die geschworenen Feinde des lebendigen Gotteswortes. Gibt es nicht auch einen christlichen Bibelglauben, der unter der gleichen Verdammnis steht? Kann nicht auch für uns die Bibel zu dem Grab werden, in dem der lebendige Christus begraben wird? Kann nicht auch unter uns das Auge durch ein verkehrtes Suchen in der Schrift statt geöffnet und klar für alle Spuren des lebendigen Gottes kalt und hart und blind werden? Es gibt einen Biblizismus, der aus der Bibel eben das macht, was die Schriftgelehrten aus den heiligen Schrift gemacht haben. Hier ist nach der anderen Seite der lebendige Kreis zerbrochen. Hier ist die innere Erfahrung stumm geworden; die verhärtete Seele ist nicht mehr geöffnet für das Raunen des Geistes, und der Schriftgelehrte wird zu dem lebensfremden Eiferer, der in seinem Bibelmuseum die vertrockneten Reste vergangener Wahrheiten bewahrt und bewacht. Wir können dem Zirkel nicht entrinnen, wir können nicht trauen dem inneren Licht, als wären wir besonderer Offenbarung gewürdigt. Wir wollen uns nicht einsperren lassen in die enge Stube unseres „geistlichen Lebens”; wir bedürfen des Wortes der Geschichte; wir strecken uns aus zu erfahren, welches da sei die Länge und Breite und die Höhe und die Tiefe; wir greifen nach der Bibel, - aber wir können nach ihr nicht greifen in dem Wahn, nun in ihr das Wort Gottes zu „haben”; wir können nach ihr nicht greifen ohne die flehentliche Bitte, daß das geschriebene Wort für uns und in uns ein lebendiges Wort werde, ohne die Bitte um den Geist, das heilige Licht, das allein uns „des Lebens Wort leuchten läßt”. Das Gottesjahr 1931, S. 118-122 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1930) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |