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von Karl Bernhard Ritter |
In lutherischen Dorfkirchen des 16. und 17. Jahrhunderts findet man zuweilen eine Bilderfolge volkstümlicher und doch ausdrucksvoller Malerei, die das Band der Emporenbrüstung füllt und von der Erschaffung der Welt über Isaaks Opferung, die Errichtung der ehernen Schlange und von Weihnachten bis Himmelfahrt und bis zur Ausgießung des Geistes am Pfingsttag die Heilsgeschichte lebendig erhält. Hier und da klingt die reiche Symbolik des Mittelalters noch an, aber die Heiligenlegende der Seitenaltäre ist verdrängt durch die Geschichten der Bibel. Die verdächtig nach rationalistischer Schulmeisterweisheit schmeckende übliche Erklärung pflegt zu behaupten, daß diese Bilder unseren des Lesens und Schreibens unkundigen Vorfahren zum Ersatz für das Buch die bildhafte Erzählung der heutigen Geschichte habe schenken wollen. Uns will scheinen, daß diese pädagogische Deutung nur ein Beweis dafür ist, wie sehr spätere Zeiten den Sinn für die Bildfreudigkeit eines Geschlechts verloren haben, das so in der Welt der Bibel lebte, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können. Diese Bilder mit der unmittelbaren Frische ihrer Anschauung sind vielmehr ein unübersehbarer Hinweis darauf, wie sehr die Bildhaftigkeit der biblischen Erzählung ein Geheimnis ihrer Macht birgt, sodaß selbst in einer Kirche, die nur allzusehr das Wort in dem engeren Sinne der menschlichen Rede als den Träger der Offenbarung ansah, das Schauen der biblischen Wahrheit nicht ganz aussterben konnte. Einem Geschlecht, das mit unmittelbarer, ungebrochener Gläubigkeit der Bibel offen stand, mußte sich ja Seite für Seite dieses Buches in gegenwartsmächtige Bilder umsetzen, in Bilder, von denen diese bäuerlichen Malereien zumeist nur einen schwachen, mitunter jedoch überraschend eindringlichen und erregenden Abglanz festhalten. Freilich überwiegt, je länger, je mehr, das anekdotenhafte Element, entsprechend der fortschreitenden Intellektualisierung der Religion im Protestantismus. So ist es wohl kein Zufall, daß ich ein Bild dieser Art, das ich nie vergessen werde, auf katholischem Volksboden gefunden habe, eine Darstellung der Schöpfung, die bei größter Naivität der Erfindung eine wahrhaft erschütternde Empfindung für das ewige Wunder der geschaffenen Welt verriet, aus der ein tiefes, frommes Staunen über den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit in der Fülle der Kreaturen zu dem Beschauer sprach. Man könnte sagen, die ganze Bibel sei ein Versuch, uns die Augen der Seele zu öffnen, uns sehen zu lehren das, was wahr und immer gegenwärtig ist. Der Verstand fixiert Ereignisse als einmaliges Geschehen in der Vergangenheit, aber das Auge schaut die ewige Wirklichkeit in der Schöpfung und in der Geschichte. Wovon der Verstand nur paradox, widerspruchsvoll zu reden vermag, das leuchtet dem gläubigen Blick der Seele im Bild unmittelbar auf. Nur für dieses Schauen wird die Erzählung von der Erschaffung der Welt auf den ersten Blättern der Bibel zur gegenwärtigen Wahrheit. Ihm ist Hiobs Stillwerden vor dem Wunder der Tiere und dem Glanz der Gestirne eine lebendige Erfahrung. Gott spricht zu Hiob und er muß die Hand auf seinen Mund legen, er schweigt, weil er anfängt zu schauen. „Eure Ältesten sollen Träume haben und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen” so beschreibt der Prophet die künftige geistgesalbte Gemeinde, und die ganze Bibel ist erfüllt von Gesichten der Propheten und Apostel. Mit unerhörter Schlichtheit und Selbstverständlichkeit aber spricht der Meister von diesem Schauen des gläubigen Herzens und befreit es in seinen Worten von aller wirklichkeitsfernen Erregung der Ekstase und wirklichkeitsfernen Entzückung. „Sehet die Lilien auf dem Felde” spricht er zu seinen Jüngern und preist die reinen Herzen selig, weil sie Gott schauen werden. Erkennst Du Dich selbst in dem Bilde des Mannes, der „zufällig” vom Felde kommt und zu seinem Entsetzen gezwungen wird, ein Kreuz auf seine Schultern zu legen? Willst Du diesem Bilde nicht stand halten? Unauslöschlich brennen sich in die Seele die Szenen auf dem Gerichtshaus des römischen Statthalters. Versuche die Bilder zu schauen, die uns die Evangelien in den letzten Kapiteln ihres Berichtes zeichnen, und Du wirst erleben, was die beiden Wanderer erleben, denen Er in der Herberge von Emmaus das Brot bricht: „und sie erkannten ihn!” Wie Glasbilder sind diese Erzählungen, durch die eine himmlische Sonne bricht. Können wir denn von den Geheimnissen des Himmels anders als in Bildern reden? Die Tiefe der menschlichen Sprache ist ihre Bildhaftigkeit, und ihrem überirdischen Flug in den Worten des Sehers von Patmos kannst Du nur folgen, wenn Deine Augen zu schauen vermögen. Wer es wagt, mit der Bibel Umgang zu haben, der muß es lernen, ihren Worten still zu halten, zu warten, bis sie uns die Gesichte erwecken, die sie bekennen. Fahre nicht gleich mit Deinen Gedanken und Erwägungen zu! Nicht darauf kommt es an, daß Du Dir zu den Worten der Bibel Deine Gedanken machst. Erst sollst Du einmal hören und über dem Hören sehen. Warte, ob Du zu sehen beginnst, was der sah, der unter dem Zwang seiner Gesichte diese Worte niederschrieb. Glaubst Du, daß etwa die Passionsgeschichte entstanden ist aus der Niederschrift von Berichten und Erinnerungen und nicht vielmehr von Seelen in Worte gefaßt wurde, die den leidenden Herrn vor sich sahen? Wer anfängt, über den Worten der Bibel die Augen aufzuschlagen und zu sehen, der ist von der Gefahr befreit, sich in Worte zu verstricken, sich in Gedanken zu verirren, die sich vergeblich mit dem Geheimnis der Offenbarung abringen. Er öffnet sich der Wirklichkeit der Gotteswelt, die unter uns Gestalt gewonnen hat und erfährt, wie von daher Klarheit in sein ganzes Leben kommt, wie auch seine Erkenntnis gereinigt und erneut wird. Die alte Kirche hatte für den Glauben das Symbol der nach oben geöffneten Schale. Der Glaube ist das offene Auge des Herzens. Er ist der Anfang aller Erkenntnis und Weisheit. Ihm wird die Erleuchtung zu teil. Das Gottesjahr 1931, S. 115-117 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1930) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |