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von Karl Bernhard Ritter |
Zur Überlieferung des bewußt evangelischen Hauses gehört der tägliche Umgang mit der „Heiligen Schrift”. Solange die Hausgemeinde Lebenszelle der evangelischen Christenheit war, ist auch die gemeinsame Lesung aus der Bibel Bestandteil der Hausandacht gewesen, jedenfalls gilt das in Deutschland für die Zeit nach der pietistischen Erweckungsbewegung. Zur Erzieherweisheit frommer Eltern gehört die Mahnung an die heranwachsenden, aus dem Hause scheidenden Kinder, den regelmäßigen Gebrauch der Bibel nicht zu vergessen. Die evangelische Kirche hat es sich jederzeit angelegen sein lassen, zur regelmäßigen Bibellektüre zu erziehen. Liegt es nun vorwiegend an der Auflösung der Familiengemeinschaft als einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft durch den gründlichen Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Gesellschaft oder sind andere, in der Sache selbst liegende Schwierigkeiten wirksam gewesen bei der Zerstörung dieser Sitte? Jedenfalls darf zunächst ohne Übertreibung festgestellt werden, daß die regelmäßige „Übung” der Bibellektüre weitgehend ausgestorben ist, ja, daß eine erstaunliche Bibelfremdheit unter „Gebildeten” und „Ungebildeten” herrscht. Soweit wir zu beobachten vermögen, fehlt es dabei dem Menschen der Gegenwart nicht an aufrichtigem Verlangen nach täglicher Hilfe für das innere Leben, an der Sehnsucht nach Weisung und Anleitung. Wie vielen Menschen begegnen wir, die sich „nicht mehr zurechtfinden”, die ratlos, hilflos den Schicksalen und Forderungen ihres Lebens gegenüberstehen und aufrichtig dankbar sind für jeden Hinweis, jede Deutung und Klärung. Vielleicht könnte da mancher Arzt aufschlußreichere Erfahrungen mitteilen als der Durchschnitt der Theologen. Aber für die allermeisten dieser Hilfesuchenden ist die Bibel schlechterdings ein Buch mit sieben Siegeln. Selbst gereifte, im Leid geläuterte, wahrhaft fromme Menschen gestehen gelegentlich, daß sie mit der Bibel nichts, aber auch garnichts anzufangen wissen. Das unmittelbare, man möchte fast sagen naive Verhältnis zur Bibel als dem „Wort Gottes” ist verloren gegangen. Schlimmer noch, die Fähigkeit, unbefangen auf das Wort der Bibel zu hören, ist zerstört. Das Schema Gesetz-Evangelium, zur moralisierenden Methode verengt, eine Fülle höchst mißverständlicher theologischer Begriffe hat sich wie ein Schleier vor das unmittelbare Verständnis der Gotteserfahrung geschoben, die uns in der Bibel entgegenleuchten will. Eine gesetzliche Ineinsetzung von „Wort Gottes” mit dem Buchstaben der Schrift ist durch die historisch-kritische Forschung zerbrochen und hat eine große Unsicherheit geschaffen, da ein freies und doch positives Verhältnis zur „Wahrheit” der Bibel nicht gefunden worden ist. So erscheint die Bibel als ein Buch, dessen Sinn nur durch alle möglichen schwer zu beschaffenden Hilfsmittel erschlossen werden kann. Ein solches Buch aber ist als ständiger Gehilfe für das praktische Leben, als täglicher Begleiter unbrauchbar. Dieser Tatbestand bedeutet eine ernste Notlage. Denn einen auf die Dauer befriedigenden Ersatz für die Bibellesung gibt es nicht. Gewiß fehlt es nicht an wertvollen, weisen Büchern, die uns zur Besinnung und Vertiefung, als Wegweiser und Deuter für die Jahre unseres Lebens unentbehrlich werden können. Aber wo ist neben der Bibel ein Buch zu finden, zu dem wir ein ganzes Leben lang immer wieder zurückkehren könnten, um es immer neu und immer tiefer zu erleben? Die erste, dem heutigen Menschen nächstliegende und oft genug einzige Art, an dies Buch heranzukommen, ist die Lektüre der einzelnen biblischen Bücher in ihrem Zusammenhang. Man muß die Bibel einmal sozusagen unbefangen, ohne erbauliche Absicht, als ein Buch unter Büchern, als eine Sammlung geschichtlicher Dokumente, von Erzählungen, Briefen und Dichtungen in die Hand nehmen und ganz neu kennenlernen. Man sollte für diese Lektüre eine Ausgabe möglichst ohne Kapitel- und Verseinteilung in die Hand nehmen. Man lasse die Art der verschiedenen „Autoren” auf sich wirken! Man entdecke z.B. daß die paulinischen Briefe wirkliche Briefe sind, an bestimmte Menschen in einer bestimmten Lage gerichtet. Da ist das Buch Hiob, diese Dichtung, die dem Faust an Kraft und Weite der Himmel und Hölle umfassenden Komposition gleicht. Da ist die epische Breite und Ruhe der Patriarchenerzählungen. Da findet man überrascht ein so gewaltiges Buch voll priesterlicher Weisheit und unergründlichen Tiefsinns wie das fünfte Buch Mosis. Gerade der innere Abstand, den man bei dieser Art der Lektüre hält, schenkt uns die Möglichkeit, einmal unbefangen zu sehen, was ist. Und man wird ganz von selbst anfangen, zu fragen, man wird nach geschichtlichen Hilfsmitteln, einer „Einleitung” greifen und sich einen Weg durch die zunächst verwirrende Fülle der Gesichte suchen. Die Bibel wird sich vor uns auftun als eine ganze Welt in der Fülle ihrer Erscheinungen, der Formen der Darstellung, der Persönlichkeiten, die zu uns reden. Diese Betrachtung der Bibel als eines literarischen und geschichtlichen Dokuments von höchster Bedeutung, die Lektüre der Bibel als einer Sammlung von Schriften, die im Zusammenhang ganzer Bücher aufgenommen werden, kann uns die Offenheit wiedergeben, die uns vielleicht durch eine dogmatisch-begriffliche Auslegung des Bibelwortes verloren gegangen ist, durch ihren Gebrauch als Rüstkammer theologischer Auseinandersetzungen, durch den „erbaulichen” Mißbrauch in einem Pathos, das uns durch seine wirklichkeitsferne und unechte Glätte verdächtig war. Vielleicht wird auf diesem Wege eine neue, uns bis dahin unbekannte Übersetzung geradezu als Befreiung von störenden Vorstellungen, von peinlichen Erinnerungen wirken, die sich bei dem bekannten Wortlaut der Lutherbibel unweigerlich einstellen. Worum handelt es sich bei der „betenden Betrachtung” des Bibelworts? Um davon eine Vorstellung zu geben, darf an die Wiederholung bestimmter Bibelabscnitte im Kreislauf des Kirchenjahres erinnert werden. Da hören wir jedes Jahr aufs neue die Erzählung von der Geburt des Heilandes, wie sie St. Lukas erzählt, die Geschichte, die uns von frühester Kindheit an vertraut ist. Um ein Kennenlernen kann es sich hier nicht handeln. Die vertrauten Worte kommen zu uns wie Klänge einer himmlischen Musik. In ihnen wird Weihnachten Gegenwart, volle Wirklichkeit. Wir stehen vor der Krippe. Wir knien nieder mit den Hirten und Königen, Wieder geschieht, was damals geschah, das himmlische Kind wird unter uns Sündern geboren. Und wie Weihnachten, so hat jedes der Feste im Kreislauf des Jahres sein Wort. Sie kehren jedes Jahr wieder, diese Feste mit ihren Worten. Hier sind die Worte mehr als eine Mitteilung, ja mehr als eine an uns gerichtete Botschaft. In ihnen wird als in irdenen Gefäßen Christus selbst dargereicht. Immer aufs neue will Er unter uns Fleisch werden. Wäre es nicht so mißverständlich, man wäre versucht, zu sagen: diese Worte „beschwören” die göttliche Gegenwart. Darum kann ihre Wiederholung nie ermüden, denn in ihnen ist die unendliche Fülle der Wahrheit und des Lichtes gegenwärtig. Man könnte auch sagen, es handelt sich um den „liturgischen” Gebrauch des Bibelwortes, wobei das Wort „liturgisch” im erweiterten Sinne gebraucht ist, als Bezeichnung der Haltung, die für den echten Kultus unerläßliche Voraussetzung ist. Hier muß zunächst ausgesprochen werden, daß für diesen Gebrauch nicht alle Teile der Bibel geeignet sind. Hier scheiden von selbst alle Worte aus, die gedanklich reflektierte Darlegung oder bloßer geschichtlicher Bericht sind. Es handelt sich vielmehr um die Worte, die aus unbedingter Erschütterung geboren, Begegnungen der Seele mit der lebendigen Macht der Wahrheit widerspiegeln, um Wortgefäße für Erlebnisse, wie Johannes sie in dem Satz kennzeichnet: „Wir sahen seine Herrlichkeit”. Es handelt sich um das biblische Zeugnis im engeren Sinne, um das Wort, das im Neuen Testament dem Samen verglichen wird, „der im Herzen Wurzeln schlägt und Frucht bringt, die bleibt für die Ewigkeit.” Dies Wort meint D. Martin Luther, wenn er von der Schrift spricht, „die Christum treibet”. Die betende Betrachtung des Bibelworts weiß, daß es sich in solchen Worten nicht um die Darbietung von Wahrheiten, von Erkenntnissen handelt, die einmal aufgenommen, verstanden sein wollen und damit unser Besitz geworden sind. Sie ist „Übung des Worts”, weil dies Wort von Stufe zu Stufe neue Erfahrungen der Seele mit Gott erschließt. Ihr sind diese Worte Mächte, die an der Seele arbeiten, sie formen, sie wandeln und bilden. Darum ist ihre ständige Wiederholung ein wertvolles, ja unerläßliches Hilfsmittel, um sie in alle Tiefen der Seele eindringen zu lassen, sie sich „einzuprägen”. Es ist bei dieser Übung des Worts gar nicht entscheidend, daß der Sinngehalt des betreffenden Wortes jedesmal voll verstanden wird und zum Bewußtsein kommt. Sein Gehalt ist viel größer als daß wir ihn jederzeit und wohl gar mit einemmal uns bewußt machen könnten. Ist er überhaupt je auszuschöpfen? Gläubig vertrauend überlassen wir uns der geistigen Macht, die in ihnen über uns die Herrschaft gewinnt. Sie leben weiter, in der Tiefe der Seele, sie gehen mit uns wie die Sterne, die wir auch nicht jederzeit zu sehen vermögen und die doch da sind als wirkende kosmische Mächte. In entscheidenden Augenblicken unseres Lebens können diese Worte aufbrechen als unerhörte, überwältigende Eingebung. Sie sind wie das Öl auf der Lampe der Jungfrauen, die den Bräutigam erwarten. An diesen Worten erkennen wir, daß wir eine ganze Ewigkeit nötig haben, um uns aufzutun für die unendliche Fülle der göttlichen Liebe, des himmlischen Lichts. Das Gottesjahr 1931, S. 106-110 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1930) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |