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von Oskar Planck |
Jede Religion beginnt mit einem Aufhorchen auf Gottesoffenbarungen, die man vorher überhört hatte und die nun das ganze innere und äußere Leben in Bewegung bringen. Aber es ist dieselbe Bewegung, die in einer gesättigten Lösung entsteht, ehe der Kristall sich bildet. Hat sich erst einmal die Gotteserkenntnis im Dogma, der Gottesdienst im Kult und die Gottesgemeinde in der Kirche kristallisiert, so besteht die Gefahr, daß man die lebendige Wirklichkeit nur noch als versteintes und erstarrtes Gebilde kennt. So ist es dem Protestantismus auch mit dem Worte Gottes ergangen. Gottes Wort ist in der Bibel ein für allemal kodifiziert und liegt zwischen zwei Buchdeckel gepreßt als Heilige Schrift auf dem Altar - ein verschlossenes Buch, dessen 7 Siegel nur der Schriftgelehrte lösen kann, mindestens ein abgeschlossenes Buch, das in der Gegenwart keine Fortsetzung hat. Demgegenüber hat sich die theologisch unverbildete Laienwelt ein Gefühl dafür bewahrt, daß der lebendige Gott nicht auf einmal stumm geworden sein kann, daß wir vielmehr damit rechnen dürfen, er rede noch gerade so zu uns, wie er vorzeiten zu den Vätern geredet hat. „Er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir” (Apg. i7, S7. S8). Dies Schriftwort wirkt wie eine heimliche Verheißung und Zusage. Mit der Bibel selber aber kommt man nur schwer zurecht. Man würde sie ja bereitwillig als eine Sammlung von Zeugnissen gottergriffener und gottbegeisterter Menschen gelten lassen, man würde diesen Zeugnissen, weil sie aus der schöpferischen Frühzeit unserer Religion stammen, sogar eine richtunggebende Bedeutung zuerkennen; aber wenn die fromme Beschränktheit sie zum alleinigen und unfehlbaren Wort Gottes stempeln will, dann setzt der Widerspruch, um nicht zu sagen der Widerwille, ein. Wohlgemerkt: Die Kritik gilt zunächst .dem Biblizismus und nicht der Bibel. Es kann aber nicht ausbleiben, daß diese Haltung auch das Verhältnis zur Bibel selber abkühlt und den Umgang mit ihr unfruchtbar macht. Viele verdrießt dieses Sich-verschanzen hinter die Bibel so, daß sie gar nicht erst gegen sie Sturm laufen, sondern ihr einfach den Rücken kehren. Umsonst daß trocknes Sinnen hierUnd so wird denn erwartungsvoll das Weltall und der Erdgeist beschworen. Was ist Sturm und Drang, Romantik, Jugendbewegung anderes, als solch ein faustischer Versuch, zu den Quellen des Lebens zu gelangen und mit der Gottheit selbst Zwiesprache zu halten? Es liegt für jedes empfängliche Gemüt etwas berauschendes in den wonnetrunkenen, liebekosenden ersten Briefen des jungen Werther, der soeben den Mißhelligkeiten der Gesellschaft entronnen ist: im hohen Grase am fallenden Bache liegend, fühlt er das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen näher an seinem Herzen und damit zugleich die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält. es ist das zeugungskräftige Zeugnis eines blutwarmen, lebensnahen Pantheismus. Aber dieselbe Landschaft erscheint ihm kurz darauf, nachdem die verzehrende Leidenschaft über ihn gekommen ist, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer, und steht schließlich, als der Brunnen seines Herzens versiegt ist, so starr vor ihm wie ein lackiertes Bildchen. Was heißt das anderes, als daß er in der Natur eben nicht ein lebendiges Du findet, das ihn anspricht, sondern nur eine Wand, die das Echo seiner eigenen Stimme und Stimmung zurückwirft? Noch deutlicher ist das in der Geschichte, in der Hegel einst die Offenbarung des Absoluten gewittert hatte. Man greift hinein in ihren Strom, um letzte Aufschlüsse zu holen, aber was bringen die Lebensbeschreibungen ans Licht? Das Individuum in seiner Eigenart und Entwicklung. Was belauscht Lamprecht? Die Volksseele in ihrer Reizsamkeit. Was Spengler? Die Volkskulturen in ihrem Werden und Vergehen. Also wieder den Menschen. Am erschütterndsten jedoch tritt uns das Menschlich-Allzumenschliche auf dem sittlichen Gebiet entgegen, wo noch ein Fichte das Gewissen als Gottes Stimme verstanden hatte. Heute deutet man es beim starken Menschen als den Ruf seines Genius, bei der großen Masse als die Schallplatte, welche die Anstandsregeln und Verkehrsvorschriften der umgebenden Gesellschaft wiedergibt. Wo wir alle hinhorchen, hören wir den Menschen und immer nur den Menschen! Das ist die Lage. Hilfesuchend blicken wir auf frühere Geschlechter zurück, die ein Ohr für Gottes Stimme hatten. Dabei stossen wir wieder auf die Bibel. Man hat oft gesagt, sie habe im Leben der Alten dieselbe Stelle eingenommen wie in dem unsern die Zeitung. Wie aber Zeitung und Zeitschrift nicht bloß Tagesneuigkeiten übermitteln, sondern uns selber reizempfindlich machen für alle Zeitströmungen um uns her, so war es mit der Bibel auch: Die Alten meinten vielleicht, ihre nur überlieferte Sprüche und Geschichten zu entnehmen, in Wirklichkeit lernten sie an der Bibel die Sprache des lebendigen Gottes verstehen und den Sinn seines Wortes deuten. Wollen wir Gottes Wort wieder hören lernen, so müssen wir bei der Bibel in die Schule gehen. Das erfordert dasselbe Maß von Aufmerksamkeit und Hingabe wie die bisherige wissenschaftliche Forschung, aber eine andere Einstellung. Eine realistische Einstellung, möchte ich sagen, statt der philologisch-historischen. Wir müssen diese Urkunden mit dem gleichen sachlichen Interesse lesen wie ein Arzt die Krankheitsberichte oder ein Ingenieur die physikalischen Beobachtungen eines genialen Bahnbrechers auf seinem Gebiet. Was wir zunächst entdecken, ist freilich wenig ermutigend. Wir stoßen nämlich beständig auf Gesichte, Stimmen, Träume, Engel und Wunder, die wir gewohnt sind als Ausdrucksformen einer Zeit anzusehen, in der das wissenschaftliche Denken noch nicht so entwickelt war wie heute. Aber verdient der vorwissenschaftliche Mensch die übliche Kritik und Geringschätzung? Natürlich soll man nichts ungeprüft ühernehmen, aber zeigt nicht das Wunderwerk der Sprache, daß ihm bildkräftigere und lebensnähere Ausdrücke zu Gebote standen als uns, und daß seine Organe für die Erfassung der sinnlichen und übersinnlichen Welt vielseitiger und feinfühliger waren als unser hochgezüchteter Intellekt? „Kannst du sie nicht begreifen”, rät Luther bei Bibelworten, die uns fremd anmuten, „so geh vorbei und zieh den Hut davor ab”, und diese Haltung ist alten Religionsurkunden gegenüber sicher angebrachter als Kritik und Umdeutung. Aber auch unsere Geistesart hat ihre Verheißung, sobald sie ihre ausschließliche Ichbezogenheit und Weltbezogenheit aufgibt. Die Schrift weiß von einer Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit - das ganze Johannesevangelium ist ein Beispiel dafür -, und die protestantischen Väter, die doch in ihren Lehr- und Streitschriften fürwahr scharfe Denker waren, verraten uns, was sie für Gottes Wort hellhörig gemacht hat. Sie nennen: oratio, meditatio und tentatio d. h. Gebet, Versenkung und Anbetung, Diese Worte sind nicht mit wenigen Sätzen auszuschöpfen, wir sind auch erst im Begriff, jene verschütteten Quellen wieder zu entdecken; darum mögen diese Andeutungen genügen. Das wird in der Natur nicht die Schöpfungsgeschichte sein, von der man herkömmlich ausgeht. Ihr gegenüber sind wir mit unserer naturwissenschaftlichen Einstellung zunächst taub. Auch nicht die Güte des Schöpfers und Erhalters, in der die Betrachtung Jesu und der Psalmisten gipfelt (Ps. 104, Vers 5, 45, 6, 26-32); das ist uns zunächst noch zu anthropomorph. Vielleicht hat uns aber schon einmal ein Staunen erfaßt über die unbegreifliche Weite der Sternenwelt, über die sinnlos wütenden Naturgewalten oder auch über die seltsamen Kuriosa und Monstra der Tierwelt - dann sind wir an dem Punkt angelangt, an dem Gott den an seinem Leiden irre werdenden Hiob darauf aufmerksam machte, daß das ganze Leben trotz aller bekannten Einzeltatsachen für uns ein ungelöstes Rätsel ist, gleichsam eine mathematische Gleichung mit mehreren Unbekannten, deren Lösung auf unserer menschlichen Erkenntnisstufe noch unmöglich ist (Hiob 37-42, 6). Wiederum kann uns ein Staunen überkommen, wenn wir etwa die Vorgänge des Keimens, Wachsens und Reifens kennen lernen und merken, daß dieselben Gesetze sich im leiblichen, geistigen und geistlichen Leben in immer neuen konzentrischen Kreisen wiederholen, so daß wir auch bei neuen Gebieten doch auf vertrautem Boden stehen. Das ist der Sinn der Naturgleichnisse Jesu (z. B. Mtth. i3). Wer nun von seinem beschränkten Gesichtskreis aus mit dem Leben nicht zurechtkommt, dem hat dieser Hinweis auf die unendliche Größe der Welt und die in ihr waltende höhere Ordnung etwas zu sagen. Gott spricht zu ihm: So viel der Himmel höher ist als die Erde sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken (Jes. 55, 9). Auch in der Geschichte vermeiden wir zunächst die ausgefahrenen Geleise der sogenannten Heilsgeschichte, weil sie für den selbständig suchenden Menschen eine Bindung bedeuteten, die ihn zum Widerstand reizt. Sicher aber hat jeder beim Rückblick auf seinen Lebensweg schon den Eindruck gehabt, als ob er geführt worden sei, oder bei schweren Schicksalsschlägen, als ob ein fremder übermächtiger Wille in sein Leben eingreife. Wo diese Voraussetzung da ist, da kann die Lebensgeschichte eines Jakob oder Joseph (1.Mos. 25-50), aufmerksam und im Zusammenhang gelesen unser Ohr schärfen für das, was Gott von uns will. Ebenso drängt es sich jedem aufmerksamen Beobachter der Weltgeschichte auf, daß die Leute, welche sich auf der Weltenbühne mit so viel Pose aufspielen, gar nicht die eigentlich handelnden Personen sind, daß vielmehr hinter den Kulissen Mächte walten müssen - göttliche oder dämonische -, die ihnen ihre Rolle zugeteilt haben und den Gang der Handlung bestimmen. Beim Sittengesetz ist der fruchtbare Moment Goethes Erkenntnis: „Besser nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und hertreibt” oder Kants Mahnung: „Handle so, daß du wollen könnest, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.” Aber wer sagt uns nun, was wir tun sollen? Kant in seiner Ehrlichkeit gibt zu, daß sein Sittengesetz inhaltslos ist, eigentlich nur ein Hohlmaß, dem der Inhalt anderswoher zuströmen muß, nur ein Gradmesser für den Verpflichtungscharakter der verschiedenen Regeln und Gebote. Da spricht Gott sein inhaltsschweres Wort in den 10 Geboten. Sie sind so einleuchtend und verpflichtend, daß sie, wohin sie kamen, zur Grundlage des bürgerlichen und kirchlichen Gesetzes geworden sind. Vielleicht erscheinen sie aber eben deshalb manchem zu grob. Dann heißt uns Jesus von der Tat auf die Gesinnung zurückgehen und schon den lüsternen Blick und den feindseligen Haß bekämpfen (Matth. 5). Ist uns aber auch dies noch zu gesetzlich, so faßt er alles zusammen in dem einen Gebot der Liebe. Liebe aber ist kein fremder Zwang, sondern ein schöpferisches Handeln. Ja mehr als das: Wenn Jesus sagt, „daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe”, so handelt es sich im letztem Grund gar nicht mehr um ein verpflichtendes Gesetz, sondern um ein beglückendes Geschenk, nämlich um ein Hereingezogenwerden in den Lebensstrom, der sich von Christus aus in die Welt ergießt (Röm. 5, 5; Joh. 13, 34 f.) An diesem Punkt glänzt nun ein Licht auf, das wie das Licht der Heimat einen warmen Schein über die letzte Wegstrecke ausbreitet und der ganzen Wanderung Sinn und Erfüllung gibt. Es wird nämlich deutlich, wie alles, was Gott zu uns redet, aus der gleichen Gesinnung heraus gesprochen ist und auf das eine Wort hindrängt, das er in Christus gesprochen hat. Er hat das erlösende Wort, das wir suchen, ja er ist das Wort (Joh. 1), denn in seinem Leben und Sterben ist die Lebe zu einem ganz eindeutigen Ausdruck verdichtet. Und das Wort ist Fleisch geworden, d. h. durch Tat und Leben in die menschliche Geschichte eingegangen. Christus ist mehr als das Urbild des mit Gott in Liebe geeinten Menschen. Das ist er auch; aber soweit er das ist, ist er der zweite Adam d. h. der Begründer einer neuen Menschheitsreihe (Röm. 5, 12-21), oder wie die Bibel lieber sagt der Versöhner, Erlöser und Heiland der Menschen, also der, welcher die entscheidende Wandlung in der Welt hervorbringt. In ihm wird offenbar, daß Gottes Wort nicht bloß eine zeitlose ewige Wahrheit ausspricht, sondern daß es uns persönlich anspricht und der Träger von wirksamen Liebes- und Lebenskräften ist. Das Gottesjahr 1931, S. 38 - 43 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1930) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |