|
von Wilhelm Thomas |
Verschiedene Religionen gründen sich auf Bücher, die ein Gott (durch einen Abgesandten oder sonstwie) den Gläubigen als Grundlage ihres Glaubens und Lebens zugestellt haben soll. Die Bibel gibt sich nicht als ein solches Buch, das durch einen äußeren Eingriff Gottes in das Weltgeschehen entstanden wäre. Die meisten Einzelschriften, aus denen sie zusammengesetzt ist, reden überhaupt nicht von ihrer Entstehung; wenn es einige, wie etwa die Lukasschriften (Evangelium und Apostelgeschichte), doch tun, so schreiben sich z.B. die genannten selbst keine andere Bedeutung zu, als die eines gewissenhaften Zeugnisses von dem, was Gott in einem bestimmten Zeitabschnitt getan hat (Luk. 1, 3). Die Bibel gibt sich aber auch nicht als eine Sammlung, die Gott etwa durch einen besonderen Boten aus allen vorliegenden Büchern und Berichten ausgewählt hätte; sie enthält überhaupt keine Nachricht darüber, wie sie aus der Fülle des damaligen frommen Schrifttums entstanden ist. Endlich kündet uns auch die kirchliche Überlieferung von keinem derartigen, einmaligen Ereignis, durch das sich aus all den urchristlichen Schriften die Bibel als Ganzes und Besonderes herausgelöst hätte. Vielmehr wird uns überliefert, wie die christlichen Gemeinden sich langsam im Laufe der Kämpfe mit den Irrlehrern und im Bemühen um eine einheitliche Gottesdienstordnung darauf geeinigt hätten, bestimmte Schriften zum „Kanon”, zur „Richtschnur des Glaubens und Lebens” zu rechnen und deshalb im Gottesdienst verlesen zu lassen - wobei, wie wir noch erkennen können, die Frage eine wesentliche Rolle spielte: ob eine Schrift wohl von einem Apostel verfaßt wäre oder von einem Späteren. Die Kirche ist also vor der Bibel dagewesen und hat, kraft ihrer Gabe, die Geister zu unterscheiden, darüber Bestimmung getroffen, was zur Bibel gehört, was nicht. Die Kirche hat sich nicht hinter irgend eine Fabel von einem äußerlich erkennbaren Beweis der Göttlichkeit der heiligen Schriften verkrochen, sondern sie hat den Kanon der göttlichen Schriften kraft eigener Verantwortung festgestellt; und sie hat sich dabei von dem Wunsche leiten lassen, einen Schutz vor Entstellungen, von denen sie bedroht war, zu finden und sich selbst dauernd jenes ursprüngliche, unverfälschte Zeugnis vor Augen zu halten, dem sie ihren Anspruch, der Welt das Heil zu verkünden, entlehnt hatte. Sie hat dabei gehandelt nach dem Vorbild der jüdischen Kirche, indem sie zugleich deren Kanon, das Alte Testament, in ihren eigenen Kanon übernahm, ungeachtet jener ursprünglich weniger einer Abgrenzung nach außen als der Zusammenhaltung eines Ganzen, nämlich des jüdischen Gesamtschrifttums, gedient hatte. Ist der Kanon der biblischen Bücher also nicht durch ein göttliches Machtwort diktiert, so dürfen wir fragen, ob er sich uns als eine heilsame Tat der Kirche bewährt hat oder ob er eine menschliche Willkür darstellt, wie wir Evangelischen sie doch manchesmal in der Geschichte der sichtbaren Kirche glauben feststellen zu müssen. Hierauf ist zu antworten: die Entscheidung, welche die Kirche getroffen hat, muß der Geschichtsforscher als eine wirklich notwendige und außerordentlich glückliche anerkennen, weil er darum weiß, wie relativ und das heißt: wie mangelhaft alle geschichtlichen Entscheidungen ausfallen; der Theologe, der um das unbedingt gültige, das reine und lautere Wort Gottes zu ringen hat, muß auf die Schwierigkeiten hinweisen und ihrer Herr zu werden versuchen, die in jedem menschlichen Sicherungsversuch liegen, und wäre es der glücklichste und gottbegnadetste. Fragt man nun aber grundsätzlich, ob man die Christlichkeit der christlichen Kirche durch einen Kanon sichern kann, so wird klar, daß die Kirche sich mit ihrer Bibel in einer sehr viel schwierigeren Lage befindet, als die Religionen der Welt mit ihren Religionsbüchern. Denn überall sonst ist das Religionsbuch Gesetzbuch, mag es nun die Form einer Erzählung oder einer Paragraphensammlung haben. Der alttestamentliche Kanon z.B. verband beides, wurde aber als Ganzes Thora, d. h. Gesetz genannt. Es liegt in der besonderen Natur des geschriebenen Wortes gegenüber dem gesprochenen, daß es Gesetz sein will, ein für allemal festgesetzt und gültig. So wollen denn auch die Religionsbücher in der Regel vor allem Vorschriften darüber geben, wie die Gläubigen sich zu verhalten haben in ihren Glaubensvorstellungen, in ihren gottesdienstlichen Handlungen und im werktätigen Leben. Es gibt auch in diesem Falle gewisse Schwierigkeiten der Auslegung und Anwendung, aber grundsätzlich liegt die Absicht jedes Satzes des Glaubensbuches fest: Er schreibt vor oder aber er lockt und droht, um zur Erfüllung der gegebenen Vorschriften anzureizen. Einem solchen göttlichen Gesetzbuch ist deshalb meist eine gewisse Breite eigentümlich, die aber genau abgegrenzt sein muß; vielerlei muß darinnen aufgenommen sein, und es ist sehr wichtig, was noch innerhalb seiner Grenzen Aufnahme gefunden hat, was außerhalb hat bleiben müssen. Nun ist auch die Bibel - das kann nicht bestritten werden - weithin in der Christenheit als göttliches Gesetzbuch in dem gesagten Sinne gehandhabt worden. Wo dies der Fall war, da konnte nicht unterbleiben, was die alte Kirche gerade vermieden hatte: Die genaue Begrenzung des Kanons. Rom hat darum auf dem Tridentiner Konzil die sogenannten alttestamentlichen Apokryphen, z. B. die Makkabäerbücher, für kanonisch erklären lassen, weil daraus bestimmte römische Anschauungen als schriftgemäß nachgewiesen werden können. Die englischen Puritaner, die bis heute den Weltbibelmarkt beherrschen, haben umgekehrt eben diese Bücher mit der Bibel auch nur zusammenzubinden verboten, weil sie jene von der römischen Kirche gepflegten Anschauungen gerade nicht biblisch belegt zu finden wünschten. Für beide Parteien liegt etwas an der genauen, eindeutigen Abgrenzung des Kanons, weil die Bibel aufgefaßt wird - mindestens nebenher! - als ein Religionsbuch nach Art aller Religionsbücher, als göttliche Gesetzessammlung. Trotz alles Mißbrauchs hat die Bibel in der Geschichte der Kirche diese ihre Aufgabe erfüllt, ganz besonders in der Zeit der Reformation. Damals wurde ihre Autorität aufgeboten, nicht um einige kirchliche Ordnungen gesetzmäßiger zu gestalten, wie das mittelalterliche Sekten getan hatten, sondern um die Gesetzesreligion, die ins Christentum wieder eingedrungen war, aufs neue aufzuheben. Darum hat ein Martin Luther den allergrößten Wert darauf gelegt, die Bibel der ganzen christlichen Gemeinde zu erschließen, damit jedermann aus ihr die Aufhebung der unvollkommenen Offenbarung, des frommen Werkes menschlich-heidnischer Art, und die Verkündigung des unmittelbar gottgebundenen Gehorsams vernehmen sollte. Und hat keinen Wert darauf gelegt, einen unerschütterlichen Kanon abzugrenzen und innerhalb seiner Grenzen eine gleichmäßige Gültigkeit aller Schriftteile festzustellen: weil es sich nicht darum handelte, aus einer festgelegten Mannigfaltigkeit von Gesetzesbestimmungen das kanonische Christenleben aufzubauen, sondern eins und immer nur eins zu verkündigen und zu erhärten als die vollkommene Offenbarung Gottes: Die Rechtfertigung des Sünders, oder, mit den Worten der alten Kirche: den dreieinigen Gott. Darum ist in der lutherischen Kirche bis heute keine rechtliche Festlegung des Kanons in der Form eine Liste der gültigen Bestandteile der Bibel erfolgt; die Bekenntnisse des Luthertums berufen sich nur allgemein auf die „prophetischen und apostolischen Schriften”. Martin Luther konnte in seinen Vorreden zu den Büchern des Neuen Testaments die Autorität des einen Bibelbuches gegen die des anderen ausspielen, in einigen den Mittelpunkt und Kern des Evangeliums feststellen, andere an den Rand des Kanons schieben; ja er ertrug es, einer Reihe von Schriften, den alttestamentlichen Apokryphen, die eigentliche Heilsbedeutsamkeit abzusprechen und sie dennoch mitten in das Heiligen Buch hineinzubinden. Der Dienst, den die heilige Schrift tun sollte, war ja nicht der einer Vorschriftensammlung, die dem Menschen einen festliegenden, in allen Fällen gültigen Weg aufwiese und ihm dadurch das Heil verschaffte; vielmehr sollte sie dem an dem Versuch eines solchen vorschriftgetreuen Weges gescheiterten Menschen die Erlösung durch die geschenkte Gnade Gottes verkündigen. Von hier aus gesehen war es eine Aufhebung des evangelischen Verständnisses der Bibel, als ein sogenanntes „Formalprinzip” mit dem protestantischen Materialprinzip Christus zusammengekoppelt wurde, das heißt, als neben dem Satze, daß wir allein durch Gnade selig werden, als ebenso grundlegend aufs neue der andre Satz gelehrt wurde, daß die Bibel das gültige Lebens- und Glaubensgesetz sei. Dieser Rückfall ist so schwerwiegend, daß er überhaupt nur verständlich wird, wenn jenes protestantische Materialprinzip in der Tat nicht ausreicht, dem gerecht zu werden, was der biblische Kanon für die Kirche und ihre Glieder bedeutet. Wir werden also versuchen müssen, das, was da noch fehlt, so auszusprechen, das wir gleichzeitig nichts von dem preisgeben, was in dem reformatorischen Verständnis der Bibel liegt, in der Bibel reines Evangelium und ein Ende aller gesetzlichen Frömmigkeit zu erkennen. Das Evangelium ist kein abstrakter Lehrsatz, wie wir solche aus der Mathematik kennen, der durch ein paar Beispiele allenfalls illustriert, aber in seinem Wahrheitsgehalt nicht bereichert werden kann. Sondern es ist Botschaft eines geschichtlichen Ereignisses, dessen Bedeutung, eben weil es sich um Geschichte im tiefsten Sinne des Wortes handelt, nur aus einem weitgespannten Zusammenhange heraus verstanden werden kann, ja, weil es sich um das alle Zeiten und Zonen angehende Ereignis handelt, im Zusammenhang des ganzen Weltgeschehens „von Ewigkeit zu Ewigkeit” geschaut werden muß. Darum spiegeln Altes und Neues Testament in der Entfaltung dieses weltweiten Zusammenhanges eine Fülle von Lebensgestaltungen und Weltbeurteilungen wider; darum enthalten Sie darüber hinaus einen reichen Schatz von Weisungen, wie sie an das jüdische Volk, an die einzelnen Gemeinden der Urchristenheit und einzelne Fromme des alten und neuen Bundes ergangen sind. All dies ist Urkunde des Lebens, wie es in der Nähe der Propheten und Apostel gelebt worden ist, und zwar gerade aus dem Munde dieser Propheten und Apostel selbst. Sollte nun von der Botschaft, die in den Mund dieser Männer gelegt war, nichts ausgestrahlt sein auf die Welt um sie? Aber andererseits - und darauf kommt es jetzt an: wir können nicht umhin, dem Handeln und Reden und Denken jener Menschen, die im allernächsten Umkreis des Durchbruchs der göttlichen Gnade stehen, eine besondere Bedeutung zuzuerkennen. Die Autorität der Männer des apostolischen Zeitalters reicht nicht aus, aus dem Evangelium wieder ein Gesetz zu machen; aber sie reicht aus, uns Ihre Entscheidungen immer wieder mit besonderer Ehrfurcht prüfen zu lassen auf ihre Bedeutung auch für uns. Keine von ihnen kann uns unbedingte Autorität sein außer der einen: der Entscheidung für das Evangelium selbst; aber Erwägung, Prüfung, Überlegung verdient alles, was im Zusammenhang seiner Verkündigung gesagt ist. Für alle diese Dinge Glauben fordern heißt einen papierenen Papst anbeten; sich dünkelhaft darüber als moderner Mensch erheben, reißt schließlich auch das Evangeliums selbst in die Flut des verachteten Rückständigkeiten. Gerade uns Heutigen ist dies beides mit gleichem Ernst aufgetragen: Mit aller Entschiedenheit Verzicht zu leisten auf ein kanonisches Gesetzbuch, in dessen Befolgung wir wollten selig werden, und dafür den lebendigen Gehorsam gegen den lebendigen, heut und hier redenden Gott einzutauschen - in aller nüchternen Bindung an die Forderungen, die uns aus Gemeinschaft der Brüder gestellt sind; und zugleich: in der Erkenntnis unserer Instinktosigkeit, unseres Nichtwissens um die göttlichen Schöpfungsordnungen, unseres Eingeschränktseins auf wirklichkeitsarme Verstandesbegriffe zu lernen an alledem, was unsrer Zeit fremd, anstößig, vielleicht auch unwichtig erscheint am Inhalt der Bibel: den Wunderheilungen, dem Dämonenglauben, dem Nebeneinander magischer Hierarchie, moralischer Bürgerlichkeit und ekstatischen Prophetentums, und an allem, was uns noch in den Weg treten mag beim Lesen der Bibel - wir können es ja im voraus nicht ausmachen. Es handelt sich um zwei Dinge, die beide im Gebrauch der Bibel von jeher geübt worden sind, praktisch auch nicht getrennt werden können, und doch unterschieden werden müssen, wenn es darum geht zu erkennen, in welchem Sinne wir Christen einen Kanon heiliger Schriften haben; es handelt sich um zwei Aufträge, denen wir beiden nachkommen müssen, wenn es gelten soll, daß wir das Geschenk der Bibel angenommen haben. Das Gottesjahr 1931, S. 31-37 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1930) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |