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von Ludwig Heitmann |
Es wäre eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, in der Freizeitbewegung der Gegenwart ganz allgemein einen Anlauf zu einer neuen Lebensbesinnung und -vertiefung zu sehen. Sie ist zunächst eine ganz naturhaft zu verstehende Erschöpfungserscheinung, eine Reaktion gegen die Überspannung des heutigen Berufs- und Geselligkeitslebens. Es ist ein sehr ernstes Kapitel unsers körperlichen, seelischen und sozialen Lebens, das sie anrührt. Sie ist mehr ein Menetekel als ein Hoffnungszeichen. Denn es ist sehr die Frage, ob der in ihr liegende Versuch, die immer schneller sich verbrauchende Kraft des sozialen Körpers in planmäßig eingelegten Ruhepausen wieder aufzufüllen, gelingen wird und heute noch gelingen kann. Die Atempausen, die sie schafft, sind nicht nur ganz ungenügend, sondern führen auch nur in den seltensten Fällen zu einer wirklichen Ruhelage und Entspannung des ganzen Menschen. Sie setzt in der Regel in etwas abgewandelter Form den Rhythmus des in rastlosem Erfolgsstreben sich verzehrenden Berufsdaseins fort, ja übersteigert ihn noch in scheinbar freiem Spiel zu jener Rekordsucht, die nur im Massenleben sich voll entwickeln kann. So bleibt sie heute auf weite Strecken des Volkslebens fest hineingeschlungen in das System des Wettbewerbs und der persönlichen Geltungssucht, das dem Lebensganzen das Gepräge gibt. Sie befreit nicht, sondern sie fesselt nur fester und tiefer. Gerade weil das so ist, ist die Freizeit ein zu ernster Verantwortung aufrufendes Gebiet evangelischer Lebensgestaltung. Die Ruhepausen, auf die das überlastete Arbeitsleben der heutigen Welt, wenn auch zunächst aus äußeren Gründen, hindrängt, gehören zu den wenigen Punkten, an denen in dem sonst so festgeschlossenen Getriebe eines unerbittlichen Wettkampfes die Botschaft aus einer andern Welt gehört und eine durch sie bestimmte neue Lebensgestaltung sich anbahnen k a n n . Darum ist es nicht Zufall, daß der Erzieherwille, dem es um eine neue Sinnerfüllung jugendlichen Lebens zu tun ist, sich ganz von selbst auf diese Lücken hingewiesen sieht, die das Sytem äußerer Zwecke freigibt. Wenn in dem Worte „Freizeit” an sich schon eine Kampfansage gegen die Zeitbedrängnis liegt, die immer mehr zum Wesenszeichen einer ganz an das Endliche gefesselten Lebensknechtschaft wird, so könnte darin auch eine Losung lebendig werden, die über diese „Zeitlichkeit” hinausweist und den Blick wieder frei machen möchte für die ewige Wahrheit und die wesentlchen Werte. Nur unter diesem Gesichtspunkte soll hier der Gedanke der Freizeit und der auf seiner entschlossen zu Ende gedachten Linie liegende Gedanke des Klosters - im evangelischen Sinne - betrachtet werden, während seine soziale Seife, so wichtig sie auch für die evangelische Lebensbetrachtung sein mag, zurücktreten möge. Der erzieherische Sinn der Freizeit im evangelischen Verständnis wird am ehesten erfaßt werden können, wenn man ihn vom evangelischen Sinn des Sonntags her zu verstehen sucht. Schon rein praktisch liegt für uns der Kampf um den Sonntag und seine rechte Sinnerfüllung auf der gleichen Linie wie der Kampf um die Freizeit und ihre rechte Gestaltung. Aber auch grundsätzlich können beide nur in strengem Zusammenhange miteinander verstanden werden. Der Sonntag ruht bekanntlich nicht nur geschichtlich, sondern auch sachlich auf dem Sabbath des Alten Testaments. Er bedeutet seine Aufhebung und seine Erfüllung im Sinne des Neuen Testaments. Das Verhältnis beider zueinander läßt sich kurz so kennzeichnen: Der Sabbath steht am Ende, der Sonntag am Anfang der Woche, der Sabbath ist der Ruhetag, der das Werk der Woche in Gott abschließt, der Sonntag aber ist der Auferstehungstag des Herrn, der allem Menschenwerk einen neuen Lebensanfang und einen neuen Sinn gibt. Auch der Sonntag schließt das Menschenwerk ab, aber in anderem Sinne als der Sabbath: er hebt es auf und stellt alles hinein in die neue Schöpfung. Dies evangelische Verständnis der Freizeit ist praktisch von höchster Bedeutung für ihre Gestaltung. Sie grenzt die Freizeit im evangelischen Sinne scharf ab von den meisten heute üblichen Verwirklichungen des Freizeitgedankens. Wir wollen ihre wichtigsten Typen kurz kennzeichnen. Die k a t h o l i s c h e K i r c h e ist heute im Begriffe, den Freizeitgedanken in ihrem Sinne systematisch auszubauen. Sie geht darin bezeichnenderweise in mehr oder minder strengem äußeren Anschluß von den Exerzitien des heil. Ignatius von Loyola aus. Durch ein lückenlos durchgeführtes System von Vorträgen, seelsorgerlichen Besprechungen, Schweigestunden, kirchlichen Übungen, die einem wohldurchdachten, auf psychologischen Erwägungen ruhenden Plane folgen, wird der einzelne von der Welt gelöst und dem kirchlich-religiösen Ziel zugeführt, „einen mit Gott geeinten Menschen zu schaffen, ihn zu einem wahren Tatchristentum zu bringen und zu echt apostolischer Gesinnung anzuleiten.” Aus der Lockerung des Weltlebens soll die Freizeit den Menschen zurückführen in den Gehorsam Christi. Das aber ist nur zu erreichen durch straffe Willenseinspannung und systematische Übung. Wenn auch das Ziel ein religiöses ist - im katholischen Sinne -, der Weg bleibt innerhalb der menschlichen Sphäre; gerade die Straffheit und die psychologische Berechnung des Aufbaus führt hier die Freizeit nicht hinaus über das System der Leistungen und der technischen Routine, das die heutige Welt beherrscht. Darauf ruht der scheinbare Erfolg, aber die wirkliche Schwäche der katholischen Freizeitbewegung; sie fügt sich ausgezeichnet in die Welt der Arbeit und des Sports hinein, führt aber an keinem Punkte entscheidend über sie hinaus. Das Gleiche gilt auf protestantischem Boden von dem a n g l i k a n i s c h e n T y p der Freizeitgestaltung. Hier ist es die methodistisch-pietistische Form der Frömmigkeit, die sich in den retreats einen wohl äußerlich freier gestalteten, innerlich aber nicht weniger von Technik und Leistung abhängigen und gleicherweise auf einen religiösen Militarismus abzielenden Typ der Freizeit geschaffen hat. Auch hier will man durch systematische Willensbeeinflussung, der auch das Schweigen dient, einen Heroismus der Tat wecken, den „Soldaten Christi” herausstellen. Trotz der religiösen Verbrämung bleibt man innerhalb des Systems der Leistungen und des Training. Das freilich wird nun nicht dadurch erreicht, daß man der Freizeit einen möglichst wirklichkeitsfernen, neutralen oder gar harmlosen I n h a l t gibt. Es ist sogar - im Blick auf die fachliche Überlastung der meisten Freizeiten - der Gedanke aufgetaucht, von jedem Inhalt abzusehen und nur die Menschen zu einer Gemeinschaft der Entspannung zusammenzuführen; man müsse es der Stunde überlassen, was sie an Fragen wecke und an Ordnungen verwirkliche, Es hat sich ergeben, daß solche Freizeiten nur in den seltensten Fällen eine befreiende Wirkung ausüben; in dem freizeitbedürftigen Geschlecht unserer Tage, das eben nicht mehr einen natürlichen Lebensrhythmus und eine ruhig strömende seelische Fülle in sich trägt, führt solche weder an einen Inhalt noch an eine Ordnung gebundene Form in der Regel zur völligen Leere. Es zeigt sich heute immer deutlicher, daß die Sinnentleerung der Zeit keineswegs nur auf Entspannung und Abrundung, also auf die Sabbathruhe, wartet, sondern einer neuen Sinnerfüllung harrt. Die reine Ruhelage der Menschen offenbart nur ihre innere Abgestandenheit. Darum ist zunächst darauf zu sehen, daß jede Freizeit ihren I n h a l t habe, und zwar einen möglichst konkreten, im Brennpunkt des Interesses stehenden. Es kommt darauf an, für den Kreis, dem die Freizeit gilt, den Punkt zu erspüren, an dem für ihn die Entscheidung des Tages, die Not der Stunde, die praktische Grundfrage des Lebens liegt. Diese praktische Grundfrage liegt selbstverständlich mitten in dem Bereich der Zwecke des täglichen Daseins. Die Aufgabe der Freizeit ist es eben, dies Dasein mit aller seiner bedrängenden Zweckhaftigkeit in einen neuen Sinn zu stellen. Diese Aufgabe erfüllt sie nicht dadurch, daß sie sich neben das Leben stellt und die Tage ausfüllt mit biblischen Betrachtungen, philosophischen Gedankengängen, künstlerischen Genüssen, die in eine reinere, spannungslosere Welt hinüberführen sollen, die mit dieser traurigen Erdenwelt nichts mehr zu tun hat. Der Ausgangspunkt jeder Freizeit im evangelischen Sinne muß vielmehr ein unerbittlicher Realismus fein: in ihrem Mittelpunkt muß die Welt stehen, w i e s i e i s t . Daß es gehört werde, ist freilich nicht eine Angelegenheit methodischer Seelenführung. So gewiß das ist, daß die Not und Krisis der Zeit auch, vielleicht sogar in erster Linie an bestimmten seelischen Zuständen, an Ratlosigkeits- und Minderwertigkeitsgefühlen der Menschen sichtbar wird, so gewiß ist es auch, daß jeder Versuch scheitern muß, innerhalb der seelischen Sphäre, also durch eine geschickte Seelenführung, Erlösung schaffen zu wollen. Die wesentliche Erlösung, die das Evangelium verheißt, wirkt sich wohl auch im Seelischen aus, kann aber nicht durch noch so geschickte psychologische Methoden zugänglich gemacht werden. Ihr Wesen besteht vielmehr darin, daß sie den Menschen aus dem Banne der seelischen Isolierung, d. h. der zerstörerischen Selbstbeobachtung und der verkrampften seelischen Anstrengung befreit. Von hier aus wird nun vollends deutlich, warum jede Freizeit einen o b j e k t i v e n I n h a l t haben muß. Alle „persönliche Erfahrung” muß im Hören und Sichaussprechen hineinströmen in die eine objektive Grundfrage, um die sich alles dreht, bis sich die Blickrichtung jedes einzelnen völlig von dem Eigenen gelöst hat und in erlösender Wendung auf das Eine hingezogen wird, was immer heller im Mittelpunkt aufleuchtet. Je ernster und „realistischer” das eine Schema angegriffen wird, das im Mittelpunkt steht, desto sinnerfüllter wird sich die Freizeit gestalten. Die Frage mag gestreift werden, in welcher Form das letzte erlösende Wort der Freizeit gesprochen werden kann. Darüber darf man auf keine Weise irgendwelche Vorschriften oder Ratschläge aufstellen wollen. Das göttliche Erlösungswort läßt sich nie und nirgends in menschliche Methoden spannen. Die fruchtbarsten Freizeiten im evangelischen Sinne sind nicht selten die, auf denen nach außen nur der Ruf der Not und der Ratlosigkeit laut geworden ist - wenn nur ernsthaft um die Sache gerungen wurde. Aber es gibt auch einen klaren Ausdruck dafür, daß auch die Freizeit die Verkündigung des Evangeliums nicht psychologisieren und methodisieren kann und will: das ist die feste Ordnung der Feierstunden, die ihr den Rahmen geben. Niemals freilich darf die Ordnung des Tages so straff gespannt sein, daß sie die volle Entspannung und Sammlung des einzelnen unmöglich macht. Die Schweigestunden haben nicht den Sinn, den einzelnen auf einen bestimmt gerichteten Gedankenweg zu führen, sie sollen ihm vielmehr die Möglichkeit geben, wirklich zu meditieren, d. h. das Gehörte zur letzten inneren Klarheit und Einheit zu bringen oder die Seele in die innere Ruhelage des Empfangenkönnens hinüberzuleiten. Zumal im Anfange der Freizeit ist es verfehlt, den einzelnen allzu straff an das gemeinsame Leben des Kreises zu binden. Wie das Objektive, das im Mittelpunkt steht, so will auch die Gemeinschaft g e f u n d e n , nicht erzwungen werden. Darum muß auch dem persönlichen Gespräch der einzelnen miteinander, zumal im Beginn der Freizeit, breiter Raum gelassen werden. Das volle Sichzusammenfinden des ganzen Kreises ist ein Geschenk, das man nicht vorwegnehmen darf, auf das man warten können muß. Die Größe des Kreises, der zu einer fruchtbaren Freizeit zusammengeführt werden kann, hängt wesentlich von seiner inneren Reife ab. Er sollte nicht so klein sein, daß im lebendigen Austausch die Distanz verloren gehen kann, aber auch nicht so groß, daß nicht mehr jeder dem andern im persönlichen Ich-Du-Verhältnis gegenüberzutreten vermag: Die Gefahr der Clique und die Gefahr der Masse bezeichnen die Grenze des Freizeitkreises. Auch über die Dauer der Freizeit lassen sich keine Regeln aufstellen; sie wird ja auch immer von den praktischen Möglichkeiten der Teilnehmer abhängig bleiben. Man soll die Freizeit nicht darum aufgeben, weil nur ein halber Sonnabend und ein Sonntag dafür zur Verfügung steht, und man soll nicht von einem Zusammenleben über Wochen hinweg eine besondere Begnadung erwarten. Kreise, die häufiger zusammenkommen können, werden gern die kurze Freizeit suchen; Kreise, die zum ersten Mal zusammen sind, brauchen Tage, um in die Haltung des Hörens, des Wartens und der Gemeinschaft zu kommen. Im übrigen muß von der evangelischen Freizeit her größtes Gewicht darauf gelegt werden, daß jedes Lebensalter, jeder Lebenskreis, jede besondere soziale Schicht - man denke an Großstadt und Land! - jede konkrete Situation ihre besondere Freizeitgestaltung fordert. Unter allen Formen, die erzieherisch wirken können, duldet die Freizeit, wenn sie wirklich ihrem Namen entsprechen soll, am wenigsten das Schema. Gerade weil sie an der Grenze eines neuen Zeitalters, eines wesentlichen auf eine neue Sinnerfüllung des Lebens wartenden erzieherischen Willens steht, muß sie in der Lebensluft der Freiheit atmen, in der allein alte Fesseln gebrochen werden können, damit ein neuer Sinn aufleuchte. Das gilt nun vollends von dem in der Konsequenz der Freizeitbewegung liegenden neuen Weg der Erziehung durch das K l o s t e r . Das Kloster würde das, was die Freizeit immer nur hindeutend verkündigen kann, in sichtbarer Gestaltung gemeinschaftlichen Lebens zu verwirklichen suchen; es würde die Lösung von der Sinnleere der gegenwärtigen Welt sehr viel entschlossener bereits vollzogen haben, während die Freizeit sie immer neu vollziehen muß. Freilich würde das Kloster im evangelischen Sinne niemals die selbständige, gleichsam in sich selbst ruhende Lebensform annehmen, die es in der katholischen Kirche gewonnen hat; es würde immer Erscheinung am Rande des Lebens bleiben, die dienend für dies Leben selber bestimmt ist und in dem Augenblicke sich selbst aufhebt, in dem sie ihre Verkündigung an das Leben erfüllt hat. Die Berufung des Mönchtums läge nicht in der Verkörperung einer höheren Sittlichkeit, sondern in der Verkündigung eines neuen Lebenssinnes an das Ganze des Lebens. Der Durchbruch durch das Todesschicksal der sich ganz an das Endliche verlierenden Zeit der sich ganz gewiß für die evangelische Grundauffassung nicht in irgend einem Gelübde persönlicher Askese, wohl aber in der Entschlossenheit zum unbedingten Dienst eines neuen Lebenswillens auswirken würde, wäre die Grundvoraussetzung einer solchen Siedlung am Rande des Lebens, die einem neuen Geschlecht die Unabhängigkeit von der Welt sich überstürzender Zwecke, die Sammlung aut die wesentlichen Grundwahrheiten evangelischer Lebensbestimmtheit und das in der Stille sich vollziehende Heranreifen zu einem neuen missionarischen Dienst am Lebensganzen sichern könnte, die den Anfang eines von einem radikal neuen Lebenssinn erfüllten Erziehungswerks bedeuten würden. Vielleicht sind die hier und da in der Stille sich entwickelnden Heime für langfristige Freizeiten jugendlicher Menschen die Vorstufen für solche klösterlichen Siedlungen, durch die ein von Grund aus neuer Erziehungswille in die Welt hereinbrechen könnte. Vorerst bedeuten diese neuen Formen der Verkündigung eines neuen Lebenssinnes am Rande des Lebens nur einen ersten Hinweis aut die große Lebenswendung, die im Ganzen sich anbahnt. In demselben Maße wie diese ausreift, wird auch der wesentliche Erziehungswille sich den Gedanken des Klosters neu zu eigen machen. Daß das Leben selber diese neue Linie sucht, zeigt sich schon heute in den überall im engeren oder weiteren Umkreis der großen Städte entstehenden Freizeitheimen. Ihre abgeschlossene Stille, ihre ganz auf die äußere und innere Sammlung eingestellte Einrichtung, ihre schlichte und strenge Lebensordnung und vor allen Dingen der Geist ihrer Leitung erweisen sich immer mehr als die wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer im evangelischen Sinne fruchtbaren Freizeitbewegung. Hier berührt sich diese bereits mit dem Gedanken der bleibenden Siedlung am Rande des Lebens, die ihren weckenden und erlösenden Dienst am Leben selber still und unaufhörlich erfüllt. In ihnen wird schon heute sichtbar, daß Freizeit und Kloster aufeinander hindrängen und aufeinander angewiesen sind, in ihnen ist aber auch schon heute erkennbar, welche hohe Bedeutung beiden für einen der Zukunft zugewandten neuen Erziehungswillen aus dem Geist des Evangeliums zukommt. Das Gottesjahr 1930, S. 65-72 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |