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von Anna Paulsen |
„Des müßten wir nun gewiß sein, daß die Seele Es ergibt sich nun, daß wir über diese Frage überhaupt nicht sprechen können, ohne sofort auf die Bibelnot unserer Zeit zu stoßen. Oft Gesagtes soll hier nicht wiederholt werden; es muß genug sein, einige Tatbestände aufzuzeigen. Als erstes ist die riesengroße Fremdheit der Bibel im Leben der Gegenwart zu nennen; es scheint oft, als wären alle Beziehungen zwischen ihr und dem geistigen Leben unserer Zeit aufgehoben. Besonders deutlich wird das, wenn man sich auf die Bibelvertrautheit unserer Klassiker besinnt. Heute kann man immer wieder das größte Staunen erleben, wenn man in einem Kreise gebildeter und denkender Mengen Worte oder Gedanken aus der Bibel anführt. Ein Beispiel für viele: Ein Student machte sich die Mühe, aus den Schriften der Propheten Aussprüche über die soziale Not ihrer Zeit zusammenzustellen und gab sie dann einem Kommilitonen ohne Angabe des Fundortes. Dieser war von diesen tiefen und weiten Gedanken sehr stark gepackt und wollte es kaum glauben, als man ihm sagte, daß sie im Alten Testament ständen. Ähnliches kann man oft erleben auch mit Worten aus den apostolischen Briefen und vor allem natürlich aus den Evangelien. Immer wieder erstaunt der bibelentfremdete moderne Mensch über die Größe, die anschauliche Kraft und die ganz eigentümliche Lebenstiefe solcher Worte. Es ist ja klar, daß solche Begegnung mit der Bibel für den deutschen Mengen notwendig verbunden ist mit einem Innewerden des unvergleichlichen Schatzes der Lutherschen Bibelverdeutschung. Die Bibelfremdheit von heute hat also ihre positive Seite insofern, als sie „Entdeckungen” möglich macht. Eine stark negative Bedeutung liegt aber doch in der Erschwerung des Zuganges zur Bibel durch das Fehlen auch nur der notwendigsten Kenntnisse und Anknüpfungspunkte. Begriffe und geschichtliche Zusammenhänge, die früheren Generationen noch geläufig waren, sind weiten Kreisen fast unbekannt geworden. Eine viel ernsthaftere Erschwerung liegt in der dogmatischen Belastung biblischer Worte durch den kirchlichen Gebrauch. Man möchte geradezu von einer Verkrustung und Erstarrung ursprünglich lebendiger Worte sprechen. Hier ist gedacht an Kernworte der apostolischen Briefe und der Evangelien, wie Rechtfertigung, Erlösung, Versöhnung, Glaube, Gnade, Sohn Gottes, Reich Gottes usw. Wir sind über die Epoche hinaus, wo man sich damit abfand, in der Bibel eine Sammlung einzelner religiös interessanter Dokumente hervorragender Persönlichkeiten zu sehen. Wir sind über den religiösen Historismus hinaus, und die Frage nach Gott ist in ihrer ganzen metaphysischen Macht erwacht. Welchen Sinn hat nun angesichts dieser Frage der Buchcharakter der Offenbarung Gottes? Wenn der Bereich Gottes jenseits des Lebens und der Wirklichkeit läge, wenn er eine in dunklen, mystischen Erlebnissen zu erfassende, uns in ihre gebeimnisvolle Ziele hineinnehmende Macht wäre, dann brauchten wir ein solches Buch seiner Selbstbezeugung nicht. Die Bibel als das Buch, durch das Gott an uns wirkt, hat ihren Sinn nur, weil es sich um den w i r k l i c h e n Gott handelt. Als der Wirkende und Lebendige hat sich Gott fort und fort durch Menschen bezeugt und hat Menschen, die ihn erfahren haben, für ihre jeweilige Zeit bekunden lassen, wer er ist. So wird die Bibel das Buch der Selbstaussage Gottes durch Menschen, die sich als seine Organe haben brauchen lassen. Und diese Selbstmitteilung ist auf hörenbe Menschen gerichtet. Die Bibel ist, wie man kürzlich einmal gesagt hat, ein „Höreebuch”. Es geht in ihr wirklich im allertiefsten Sinn um Gott selbst, um die Bekundung seines Wesens und Willens, wie sie am reinsten und am wenigsten zeitgebunden durchbricht in den Evangelien. Weil es sich um ein „Hörebuch” handelt, darum hat es einen Sinn, von Erziehung zur Bibel zu sprechen. Denn unter diesem Gesichtspunkt muß jeder persönlich mit ihr in Berührung kommen; es genügt nicht, das, was sie zu sagen hat, durch den Unterricht anderer zu erfahren. Wenn die Bibel nur eine Sammlung von historischen Berichten wäre, dann würde sie sich selbst überflüssig machen, nachdem man ihren Jnhalt begriffen hätte. Wenn es sich um eine Sammlung von Lebeneanweisungen, einen Moralkodex, handelte, würde es sich ähnlich verhalten, denn auch der beste Ratgeber wird einmal überflüssig. Vollends, wenn die Bibel das wäre, was man sehr oft in ihr vermutet, eine Sammlung von „fertigen” religiösen Erkenntnissen, dann dürfte man sie getrost zur Seite legen, nachdem man diese Gedanken hinlänglich begriffen hätte. Sie wäre erledigt in dem Augenblick, wo man aus ihr gelernt hätte, was hier zu lernen ist. Man wird bei manchen Hausandachten den Eindruck eines alttestamentlichen oder sagen wir lieber katholischen Bibelgebrauchs nicht los. Das Bibellesen erscheint als ein opus operatum; man meint es zu tun zu haben mit einer sulbstantiellen Heiligkeit des Wörter- und Buchstabenbestandes der einzelnen Schriften der Bibel. Ein außerordentlich schweres Hemmnis, das wir hier nicht übergehen dürfen, ist auch eine gewisse Predigtpraxis. Mancher hat den den Eindruck gewonnen, daß der Pastor seine Predigt mit der Bibel nur darum verknüpft, weil er durch sein Amt verpflichtet ist, eine aus der Bibel geschöpfte Rede zu halten. Besonders peinlich wird der Eindruck dann, wenn der Anschein erweckt wird, daß die Predigt nur auf Grund ihrer Bindung an die Worte der Bibel so matt, so lebensfern und so bedeutungslos ist. Bibelnot und Kirchennot gehören eben untrennbar zusammen und verschärfen sich gegenseitig. Wir kommen dem Sinn einer Erziehung zur Bibel näher, wenn wir uns klar machen, daß in all diesen Dingen nicht so sehr die bewußte Beeinflussung maßgebend ist, wie wir überhaupt immer mehr erkennen, daß in Dingen der Erziehung pädagogische Methoden nicht das Letzte sind. Die Methode ist viel weniger wichtig als das, was der Erzieher selbst „als handelnder Mensch ist in dem Augenblick, in dem er erzieht” (Delekat). In allen letzten Fragen liegt die eigentliche erzieherische Bedeutung in der Bildekraft eines Menschen, in der Einflußsphäre, die er um sich schafft und für die nicht eigentlich seine :persönliche seelische Kraft maßgebens ist, sondern vielmehr die Substanz, aus der er lebt, die Macht, die sein Inneres formt und gestaltet. Es braucht sich dabei in keiner Weise um eine heldische, schöpferische Kraft zu handeln, sondern viel wichtiger ist das, von außen gesehen, oft Unscheinbare: Die gelebte Kraft des Liebens, Duldens, Hoffens, die Kraft, in Leid und Enttäuschung stark zu bleiben. Wo Worte nichts vermögen, weil sie ja bis zum Übermaß verredet scheinen, da wirkt, oft unvergeßlich sich einprägend, die Echtheit des gelebten Vorbildes. Es kann geschehen, daß auf Grund einer solchen Erinnerung ein Mensch viel später einmal im Leben zur Bibel greift, um in ihr der Kraft nachzuspüren, die ihm einmal im Leben eines Menschen begegnet ist. Wir stehen hier vor der großen Bedeutung der Atmosphäre eines Elternhauses, einer Jugendgemeinschaft, eines Lebenskreises überhaupt. Es ist unsere größte Armut vielleicht, daß wir wenig Elternhäuser solcher Art noch haben, sondern daß wir vor einer tiefen Hilflosigkeit stehen, ein Haus und einen Lebenskreis zu gestalten und dem gemeinsamen Leben eine Weihe zu geben. Das ist immer dann der Fall, wenn es uns in einem Moment begegnet, wo es über alles menschliche Verstehen hinaus erschütternde und lösende Macht über uns hat. Psychologische Erklärungen versagen hier. Oft kann die einfache Lesung diese Wirkung ausüben. Um ein Beispiel zu sagen: wer etwa Psalm 42 in dieser Haltung gehört hat, der weiß, daß das existenzielle Warten auf Gott, die Sehnsucht nach ihm, hier so machtvoll zum Ausdruck gekommen ist wie vielleicht nie wieder. Man muß, um die Wirkung der Psalmen zu verstehen, immer wieder hinweisen auf Luthers Vorrede zum Psalter, wo die zeitlose Bedeutung der Psalmen unwiederholbar tief zum Ausdruck gekommen ist. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß solche Wirkung des Wortes vor allem durch menschliche Rede vermittelt wird, durch deutende Erklärungen, durch die Predigt, die das wirklich ist, was sie sein soll. Wir kommen mit diesen Erwägungen aber um die Frage nicht herum, warum die Fleischwerdung des Wortes,von der die Rede war, durchaus an der Bibel und durch sie geschehen muß. Die Antwort liegt in der Erkenntnis, daß die persönliche Geschichte des einzelnen, das heißt, auch die Geschichte Gottes mit ihm, nicht im leeren Raum gleichsam steht, sondern vielmehr eingeschlossen ist in die Geschichte Gottes mit der Menschheit, und das heißt, in die Geschichte der Kirche. Daß wir die Bibel so wenig verstehen und so wenig Sinn haben für sie, ist ein neues Symptom unserer kirchlichen Verarmung. Es will uns nicht aufgehen, daß die persönliche Anrede Gottes an den Einzelnen durch andere zu ihm kommt, und das heißt hier, durch Menschen der Vergangenheit, die Werkzeuge Gottes für uns werden. Kirche ist ja nicht nur eine Gemeinschaft der Lebenden, sondern ein Organismus, der auch durch die Zeitenreihe hindurch Menschen zusammenbindet. Diese Vermittlung des Wortes Gottes durch andere bedeutet kein Mittlertum im dogmatischen Sinne, sondern hat ihren Grund in unserer gemeinsamen Gliedhaftigkeit im Leib der Kirche. Daß einer für den andern zu einem Christus werden soll, wie Luther es einmal ausdrückt, findet hier seine Bewährung auch mit Beziehung auf die Menschen der Vergangenheit. Bisher war die Rede von einem mittelbaren Dienst; die eigentliche Erziehung zur Bibel geschieht durch die Bibel selbst, indem sie wirkend sich durchsetzt. Es wird nun aber auf dem Wege zur Bibel auch ein direkter Dienst durch Menschen notwendig. Es müssen Hemmungen weggeräumt werden, um den Weg frei zu machen. Ein solcher Dienst besteht zum Beispiel darin, daß man ein Wort aus seiner historischen Gebundenheit herauslösen hilft. Manchem jungen Menschen ist schon durch solche Hilfe eine Prophetenschrift in einer für ihn ganz erstaunlichen Weise lebensnahe und gegenwartsmächtig geworden. Hier muß ein Hinweis gegeben werden auf neuere Bibelausgaben. Als vorbildliche Versuche einer vergegenwärtigenden Übersetzung erscheinen die Ausgaben des Verlages Kaiser: Die Propheten Amos, Jeremia, Jesaja, das Buch Hiob. Ein schwerstes Hemmnis auf dem Wege zur Bibel liegt für viele in der starren, mechanistischen Bibelauffassung mancher kirchlichen Kreise. Im Grunde ist hier eine menschliche Theorie zwischen die Bibel und den Menschen gestellt worden; man geht mit einem frommen Wunschbild um und nicht mit der wirklichen Bibel. Um diese starre Theorie zu überwinden, ist eine Erziehung zur Bibel notwendig auch in den Kreisen, die sich schon ganz sicher in ihrem Besitz fühlen. Es wird immer wieder nötig sein, die Bibel aus falschen Anschauungen und einem falschen Gebrauch zu erlösen, wie in anderer Weise zum Beispiel auch das Gebet und überhaupt alle Beziehungen zum Heiligen von gesetzlichem Mißbrauch befreit werden müssen. Immer aufs neue muß die Bibel sich durchsetzen und uns zu ihr erziehen. Das geschieht grundlegend, indem wir hörend uns ihr unterordnen. Menschliche Anschauungen wie die eben gestreiften sind eigentlich Gitterwerke, durch die man sich zu sichern sucht vor dem unbedingten Gehalt; denn mit Gottes Wort zu tun haben, heißt mit dem Unbedingten es zu tun haben. Immer wieder versuchen wir es, Gott und sein Wirken in unsere Maßstäbe und Begriffe und Ordnungen hineinzuschließen und vergessen darüber, daß wir so an der eigentlichen Tiefe vorüberleben. Es wird immer mehr klar, in wie hohem Grade die Erziehung zur Bibel eine Erziehung durch die Bibel selbst ist, eine Erziehung zu ihren Maßstäben. Alles wirkliche Lesen ist ein „Hören” und bedeutet: auch hören, was man nicht gerne hören möchte. Nur so kommt man über sich selbst hinaus. Diese Erziehung durch die Bibel wird niemals beendet sein dürfen, sondern wird immer ernsthafter ihre Wirkung an uns ausüben müssen. Es gibt Worte, die so reich sind, daß sich uns von einer Lebensstufe zur andern immer tiefer ihr Sinn enthüllt; und es ist von so großer Bedeutung, daß solche Worte nie alt für uns werden, sondern immer wieder uns Neues zu sagen haben. Wir merken wieder, daß Lesen und „Lesen” - wir haben dieses Lesen ja auch als ein „Hören” bezeichnet - etwas sehr Verschiedenes sein kann. Es gibt ein Lesen, durch das man das Wort „in sich bildet”, wie Luther einmal gesagt hat. Diese „bildende”, erziehende Bedeutung der Bibel soll zum Schluß zusammengefaßt werden in ein Wort, das Luther vom Psalter, den er als kleine Bibel bezeichnet, gesagt hat: „Er hält dich von der Rotte weg zu der heiligen Gemeinschaft, denn er lehrt dich in Freuden, Furcht, Hoffnung, Traurigkeit gleichgesinnt sein und reden, wie alle Heiligen gesinnt und geredet haben.” Das Gottesjahr 1930, S. S. 31-38 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |