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Das Ende
von Wilhelm Stählin

LeerIst über das Ende mehr und anderes zu sagen, als daß es eben ein Ende gibt, und daß das Ende eben wirklich das Ende ist?

LeerDas ist eine bittere und unerbittliche Wahrheit, daß alles, was in der Zeit geschieht und besteht, notwendig ein Ende hat. Jede Stunde, jeder Tag, jedes Jahr, jeder Lebensabschnitt und das irdische Leben des einzelnen Menschen selbst geht unaufhaltsam seinem Ende entgegen. Daß es ein Ende haben wird, ist das Einzige, das wir von dem Unbekannten, das vor uns liegt, wirklich wissen und sagen können. Die Arbeit, an der ich stehe, werde ich einmal aus der Hand legen müssen; von den Menschen, mit denen ich den gleichen Weg ziehe, werde ich einmal, vielleicht ohne es zu wissen, einen letzten Abschied nehmen, bei dem es keinen Sinn mehr hat, zu sagen: Auf Wiedersehen! Alles, was in der Zeit ist, hat einen ihm zugemessenen Raum in der Zeit und also sein Ende. Das gilt gar nicht nur von dem engen Lebensbereich des einzelnen Menschen. Es hat wirklich alles sein Ende. Die großen Völkerschicksale haben ihr Ende. Was sind heute Assur und Memphis? Staaten und Kulturen haben ihre Zeit und darum auch ihr Ende. Und wo das Ende gekommen ist, bringt keine Romantik das, was vergangen ist, zurück. Es gibt nichts, was diesem Urteil, daß es ein Ende haben muß, enthoben wäre. Menschenleben auf Erden wird irgendwann ein Ende haben, unsere Erde selbst wird irgendwann einmal nicht mehr sein. Es gibt innerhalb dieser ganzen Welt nichts, was diesem Vergehen nicht unterworfen wäre; es geht wirklich alles seinem Ende entgegen.

LeerUnd das Ende ist unerbittlich. Was zu seinem Ende gekommen ist, das hat seine Zeit gehabt und wird sie nicht noch einmal haben. Leben ist einmalig und kann nicht noch einmal von vorne begonnen werden. Der Tag, der uns zu leben und wirken gegönnt ist, hat seinen Abend und dann kommt die Nacht, „da niemand wirken kann”.

LeerVon dem Ende fällt ein tiefer Schatten auf den gegenwärtigen Augenblick. Jeder Augenblick bringt uns und unser Leben um einen Schritt seinem Ende näher. Daß der Kranke in schlafloser Nacht, die langen Stunden zählend, sich dessen tröstet, daß auch diese Nacht zu Ende geht; daß der Bekümmerte und Leidende seine letzte Kraft zum Tragen aus der Gewißheit schöpft: auch dies geht zu Ende - - das ist doch nur das Widerspiel des furchtbaren und erschreckenden Ernstes, der von dem Ende her auf jede harmlose Lebensfreude, auf jedes nach Dauer sich sehnende Glück fällt. Welche Verantwortung in unserer Arbeit, daran zu denken, daß unser Arbeitstag zu Ende geht! Welche wehmütige Inbrunst der Liebe, zu wissen, daß die Jahre, die wir zusammen leben dürfen, zu Ende gehen! Welches Gewicht geschichtlicher Entscheidungen, wenn unerfüllte Notwendigkeiten nicht einfach bei späterer Gelegenheit nachgeholt werden können, weil der Lebensraum einer Nation selbst zu seinem Ende kommt!

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LeerAller Ernst des Lebens, alle Ernsthaftigkeit der Geschichte wurzelt in dem Geheimnis der Zeit, und das heißt darin, daß Leben und Geschichte sich einem Ende zu bewegen. Aber ist das nicht schon zu viel gesagt? Ist das ein wirklicher Ernst, was das Leben von seinem Ende her empfängt? Ist es nicht  n u r  das heimliche Grauen, der Schatten des Todes, eine letzte große Sinnlosigkeit? Es ist vielleicht ehrlicher, so zu reden, wenn das Ende eben wirklich nichts als das Ende ist. Aber es ist ein anderes, ein im Allertiefsten anderes, ob der Glaube oder der Unglaube die Zeit betrachtet und von dem Ende redet. Eben das ist das Wort des Glaubens, daß Gott ein Ende macht. Das Ende rückt uns nicht in eine unendliche Ferne, denn „am Ende” steht der Gleiche, der „im Anfang war”. Es ist der strenge Gott, dessen Zorn allem ein Ende macht, aber es ist der gütige Gott, dessen Liebe „alles zu sich ziehen” will. Gott macht nicht nur ein Ende, sondern er gibt ein Ziel. Um das Ende zu wissen, ist Klugheit; aber um das Ziel wissen, ist Glaube. Nicht die Bewegung auf das Ende, sondern die Richtung auf das Ziel macht erst wirklich das Leben im Kleinen und im großen voll Ernst und Verantwortung.

Leer„Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.” Das ist das biblische Zeugnis von Christus, in dem ebenso das Ende wie der Anfang aller Dinge in einem mit dem wiederkommenden Christus; das heißt, er sieht eben nicht nur das Ende, sondern er sieht das in Christus erschienene Ziel. Damit aber wird alles Leben in ein neues Licht oder vielmehr überhaupt erst in ein Licht gestellt. Wir bewegen uns nicht nur ungefragt und unerbittlich unserm Ende entgegen, sondern wir sind dazu aufgerufen, uns auf ein Ziel hin zu bewegen; nicht auf irgendein Ziel, sondern auf das Ziel, das uns und aller Welt in Christus ein- für allemal gesetzt ist. In sein Bild verwandelt zu werden, ist nicht nur das Ende alles bloß naturhaften irdischen Lebens, sondern ebenso das Ziel, um dessentwillen es sich überhaupt lohnt, zu leben.

LeerDie Naturwissenschaft lehrt uns den geheimnisvollen Vorgang beobachten, daß ein bestimmter Endzustand das Wachstum und die Wandlungen eines Organismus vom ersten Anfang an beherrscht. Der Name „Entelechie” drückt eben diesen merkwürdigen Sachverhalt aus, daß das Ende von Anfang an irgendwie gegenwärtig und eingeschlossen ist. Das ist in der Tat das Geheimnis alles Lebens, das wirklich Leben ist. Wir tragen nicht nur den Keim des Todes in uns und müssen nicht nur unter einem unentrinnbaren Zwang uns stündlich unserm Ende nähern, sondern wir tragen die Anlage auf ein ganz bestimmtes Ziel in uns und können diesem in uns angelegten Ziel trauen und gehorchen. Das Ende ist wirklich nichts anderes als das Ende, und es ist Träumerei oder Weltschmerz, von diesem Ende als von einer ewigen Ruhe oder einem Sabbat der Erlösung zu reden. Aber das Ziel ist das Maß aller Dinge, der Richter, von dem wir gerichtet werden; der letzte Sinn, der jeden gegenwärtigen Augenblick an die Ewigkeit bindet.

LeerDie Geschichte hat ein Ende; aber sie hat auch ein Ziel, weil Gott ihr in Christus eine Mitte gesetzt hat. Unser Leben hat ein Ende; aber es hat ein Ziel, weil wir in Christus zu einem neuen Leben berufen sind. Das Ende ist der Tod; aber „die Gabe Gottes ist das ewige Leben”. Das ist das Ziel.

Das Gottesjahr 1928, S. 79-81
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-13
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