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Heute
von Wilhelm Stählin

LeerDas Heute ist der schmale Grat, der das Gestern von dem Morgen trennt. Lebendig im Heute stehen heißt schwindelfrei auf diesem Grat Fuß fassen.

LeerDarin liegt wie in jeder Gratwanderung ein ganz außerordentlicher Reiz. Es ist geradezu ein Prüfstein auf unsere wirkliche Lebendigkeit, ob wir uns dem Heute ganz und gar verschreiben können. Gerade das Einmalige, Unwiederholbare, Niewiederkehrende ist das Element des Lebens, und nur der steht wirklich im Leben, statt in dem Gefängnis seiner Erinnerungen, seiner Reue, seiner Hoffnungen, seiner Wünsche, der den flüchtigen Augenblick mit vollkommen wacher Aufmerksamkeit ergreifen oder vielmehr sich ganz von ihm ergreifen lassen kann. „Heute ist heut” braucht nicht der Spruch eines alle Verantwortung abschüttelnden Leichtsinns zu sein; es kann der Ausdruck einer höchsten Lebendigkeit sein, die um den tiefsten Sinn der Zeit weiß, und weiß, daß uns die Zeit immer nur in der flüchtigen Stunde des heutigen Tages wirklich gegeben ist.

LeerHeute! Traumhafte Stille eines Sommertages, wo alle Lasten sich lösen, wo wir nicht mehr fragen, was gestern war oder was morgen sein wird, wo alle Arbeiten, Kämpfe und Sorgen eines Jahres in eine seltsame, unerreichbare Ferne sinken, wo wir uns ebenso die künftigen Aufgaben und Schwierigkeiten durch einen undurchdringlichen Vorhang noch verbergen lassen, um ganz in diesem begnadeten Heute zu stehen. Köstliche Ungebundenheit eines Ferientages, wo wir kaum mehr wissen, was gestern war, nicht fragen, wo wir morgen wandern und ruhen werden, ganz dem gegenwärtigen Augenblick, dem heutigen Sonnenschein, dem Wald, durch den wir schreiten, dem Wasser, auf dem unser Kahn schaukelt, hingegeben. Herrliche Zeitlosigkeit eines Ferientages, an dem wir keinen Terminkalender mehr haben, der unseren Schritt rückwärts und vorwärts in ein strenges Geleise zwingt, ganz vergessen „Datum” und Wochentag und nichts mehr wissen uns empfinden als die gegenwärtige Stunde. Gewiß, das ist Ferienglück, Ruhepause, Ausnahmezustand. Aber wer das nicht kennt und nicht kann, einmal alles vergessen und einmal gar nicht sorgen, nicht rückwärts und nicht vorwärts denken, der kann auch im Ernst des Lebens nie wirklich im Heute stehen. Und eben darauf kommt es doch wirklich und ganz ernsthaft an, daß wir das uns geschenkte Leben in seinem Heute ergreifen.

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LeerEs ist das Recht einer beglückenden Stunde, daß wir nun nicht uns mit der Frage nach dem, was vergangen ist, quälen und belasten, daß wir uns nicht beunruhigen mit der Frage, wie lange uns dieses Glück erhalten bleiben wird, oder was für Schrecknisse vielleicht auf uns warten. Ja, es gibt gar kein anderes Mittel, sich für die vielleicht auf uns wartenden Leiden und Kämpfe stark zu machen, als daß wir die gegenwärtigen Freuden ganz in der Tiefe auskosten und uns gleichsam ganz von ihnen durchströmen lassen. Was wäre ein Frühlingstag, an dem wir zugleich an den vergangenen Winter und an den kommenden Herbst denken wollten! Was wäre junge Liebe, wenn in ihr nicht die schmerzhafte Sehnsucht und das peinliche Irren der dahinterliegenden Jugendjahre ebenso versinken dürften wie die sorgliche Frage nach allen Möglichkeiten künftiger Kämpfe und Leiden! Was wäre die friedvolle Stille eines Feierabends, an dem Mann und Weib miteinander und aneinander zur Ruhe kommen, wenn in seinem Frieden nicht ebenso der vergangene wie der künftige Tag geborgen wäre! Friedvolle Stille und mehr noch die höchste Lust lebt ganz dem Augenblick, „vergißt, was dahinten ist”, und fragt nicht nach dem morgigen Tag. Wer das nicht kann, wer nie auf den Grat hinaufsteigen oder auf dem Grat einmal nach der einen oder der andern Seite hinunterschauen muß, der kann nicht frei und dankbar auf dem Grat des Heute stehen; und der kann nicht wirklich  l e b e n .

LeerEs wäre grundverkehrt, das nur von den heiteren, sonnendurchglühten Stunden des Lebens zu sagen. Auch der Schmerz hat sein Recht; und er kommt nur dann zu seinem Recht, wenn auch er einmal seine Stunde gänzlich erfüllen darf, ohne den Platz mit dem Gestern und dem Morgen teilen zu müssen. Wenn mich die Trauer um einen jäh dahingegangenen lieben Menschen überwältigen will, dann soll und will ich nicht diese Trauer aufheben durch teure Erinnerungsbilder, sondern dann ist es eben wirklich die Trauer und nichts als Trauer, was mich erfüllt; und man soll und darf den wahrhaft trauernden Menschen nicht mit dem billigen Trost aus seinem Schmerz herausreißen wollen, daß ihm vielleicht in späterer Zeit noch dies oder jenes Glück beschieden sein könne. Damit würden wir ihn ja nur hindern, sein Heute ganz ernst zu nehmen, also daran, wirklich zu leben. Wir brauchen die Tage, an denen das graue Gewölk ganz über unsern Weg herabhängt, an denen das Leben eine schwer zu tragende Last ist und wir selber uns zu der allerschlimmsten und unerfreulichsten Last werden; auch diese Tage wollen ihr Recht und müssen gelebt werden als ein starkes, anspruchsvolles Heute; und wenn sie nicht gelebt werden, dann werden sie auch nicht wirklich überwunden. Es kann allemal nur morgen werden, wenn das Heute wirklich gewesen ist; wer sein Heute nicht lebt, erlebt auch kein wirkliches Morgen. Wer nicht der flüchtigen Stunde mit ihrem Glanz und ihrer Not wirklich gehören kann, dem bleibt wirkliches Leben und Wachsen versagt.

LeerDennoch empfängt das Heute seinen ganzen Ernst daraus und nur daraus, daß es der einmalige und nie wiederkehrende Tag ist, der uns zwischen dem Gestern und dem Morgen geschenkt ist. Ein jeder Tag weist hinter sich zurück in das Vergangene und über sich hinaus in das Künftige. Kein Tag kann herausgelöst werden aus diesem unentrinnbaren Zusammenhang der Zeit; kein Tag, an dem nicht das Vergangene in tausendfacher Gestalt mich begleitete, kein Tag, der nicht in unheimlicher Folgerichtigkeit einen Schritt, einen nicht wieder umkehrbaren Schritt in die Zukunft hinein bedeutete. Kein Tag, der nicht, indem wir ihn leben, zugleich noch Zukunft und schon Vergangenheit für uns wäre! Kein seliges Vergessen im lebendigen Heute, das eben nicht doch bloß  V e r - g e s s e n  wäre, Vergessen dessen, was doch in jedem Augenblick da ist: Vergangenheit und Zukunft.

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LeerJa, in dem Augenblick, wo wir über das Heute überhaupt reden, darüber nachsinnen, gedanklich ergreifen wollen, was denn dieses Heute ist, entgleitet es uns völlig und bleibt nichts anderes als eine leere begriffliche Form, eine wesenlose Grenze, ein messerscharfer Grat, auf dem man in der Tat  n i c h t  stehen, eine Schwelle, die man nur überschreiten, aber auf der man schlechterdings nicht verweilen kann; kein Raum, sondern nur ein Tor zwischen zwei Räumen, der Durchgang des sich unendlich bewegenden Zeigers durch einen Punkt, aber selbst keine irgendwie faßbare Spanne der Zeit.

LeerSo ist es in der Tat; aber es ist so doch nur für den Verstand, der das Wesen des Heute ergrübeln will. Aber eben dieses Heute ist das einzige Element des wirklichen Lebens. Nichts als dieses Heute ist uns wirklich gegeben. Vergangenheit ist die Zeit, die uns nicht mehr gegeben ist, und die wir gestalten können nur mehr als das Bild, das wir heute in uns tragen; Zukunft die Zeit, die uns noch nicht gegeben ist, und deren wir mächtig werden nur in Wunsch und Hoffnung, Richtung und Zuversicht, mit der wir ihr heute entgegengehen. Gewiß ist das Heute, jedes Heute an die Vergangenheit gekettet; aber es gibt keinen andern Weg, die Vergangenheit zu überwinden, als daß wir lebendig in dem Heute stehen und in der Kraft dieses heutigen Lebens auf eben diese Vergangenheit schauen; Dankbarkeit und echte Buße sind im gleichen Maß nicht eine Sache des Grübelns über das, was war, sondern die Frucht und Form heutiger Lebendigkeit.

LeerNur in der Entscheidung und Hingabe, die das Heute uns zumutet, bekennen wir uns zu der göttlichen Führung und „tun wir wahrhaft Buße”. Und wie anders könnten wir denn die Zukunft, die unsichere, gänzlich uns verborgene Zukunft ertragen, als dadurch, daß wir uns heute eben dieser Zukunft zuwenden und heute einen guten Grund für das Morgen legen. Alles Raten, wie der morgige Tag aussehen wird, alles Wünschen und Begehren, alles Sorgen und Hoffen ist eitel; aber das lebendig gelebte Heute ist ein Schritt in das Dunkel dieses Morgen hinein. Das Heute ist die einzige Form, in der uns Vergangenheit und Zukunft in gleicher Weise gegeben sind. Allein dieses Heute ist in unsere Hand gegeben als ein ständiger Ruf zur Entscheidung, zur Stellungnahme, oder, was dasselbe ist, zum Leben. Unsere Vergangenheit ist das, was wir heute aus ihr machen, unsere Zukunft ist das, wozu wir uns heute „bekehren”.

LeerDarum bricht die Ewigkeit nicht nur „am Anfang” und „am Ende” aller Tage in die Zeit, sondern sie bricht herein eben in dem gegenwärtigen Augenblick, in dem wir leben. Nicht indem wir grübeln über ferne Vergangenheiten oder neugierig fragen nach dem künftigen Leben, sondern indem wir heute ganz lebendig sind, aus dem heraus, was „im Anfang” ist, auf das hin, was „am Ende” sein wird, leben wir aus dem Glauben der Ewigkeit heraus. Gerade weil das Heute immer nur eine Schwelle ist, über die wir schreiten, wirklich nur ein Tor, durch das wir hindurchgehen, ist das Heute wirklich das Tor, das einzige Tor, durch das wir Menschen der Zeit in die Ewigkeit gehen. Darum ist es das tiefste Wort, das ebenso über die Stimme der Ewigkeit, wie über den Sinn des Heute gesagt worden ist:


Heute,
so ihr Seine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht!

Das Gottesjahr 1928, S. 57-60
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-13
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