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von Wilhelm Stählin |
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.”. Damit beginnt die Heilige Schrift. Mit dem, was im Anfang war und geschah, hebt alles das an, was von Gott und Welt überhaupt zu sagen und zu erzählen ist. „Im Anfang war das Wort.” Damit beginnt das Evangelium, „das einige, rechte zarte Hauptevangelium”, wie es Luther genannt hat. Mit dem, was im Anfang war, hebt alles das an, was von der Gottesoffenbarung und dem Anbruch einer neuen Welt zu sagen ist. Was heißt das: „Im Anfang”? Unser Erinnern tastet zurück hinter den heutigen Tag: Wo hat das seinen Anfang genommen, was das Heute füllt und gestaltet? Wo sind die ersten Spuren, wo ist der erste Anfang von dieser Arbeit, dieser Erkenntnis, dieser Begegnung, diesem Lebensschicksal, das heute so selbstverständlich mein Leben bestimmt und beherrscht? Um den Anfang wissen, heißt, die verborgenen Wurzeln bloßlegen, aus denen das Geschehen seine Kraft zieht. Und unser Forschen und Sinnen tastet sich hinter alles, das besteht, nach dem, was vorher war, vor der armen Spanne unseres Lebens, vor dem überschaubaren Weg unseres Volkes und unserer Kultur, vor den Jahrtausenden, in denen sich unsere „Weltgeschichte” abspielt, bevor unsere Erde ein bewohnbarer Himmelskörper geworden war. Was war denn vorher, ganz im Anfang? Noch einmal, was heißt das: „Im Anfang”? Die Frage, was im Anfang war, meint mehr, als daß wir hinter dem gegenwärtigen Augenblick war, einen früheren Augenblick und hinter einer Vergangenheit eine fernere Vergangenheit enthüllen möchten. Hinter dem Gestern liegt das Vorgestern, hinter der fernen Vergangenheit liegt eine noch fernere Vergangenheit, und solange wir auch nur denken können, daß hinter dem, was wir als den Anfang entdeckt haben, ein noch früherer Anfang sich uns verbirgt, solange sind wir dem Anfang noch nicht auf der Spur. Es gibt keinen noch so frühen Zeitpunkt innerhalb der Zeit, der nicht selbst seine Vergangenheit hätte. Kein Punkt innerhalb der Geschichte, mag er gleich durch Jahrmillionen von unserm Tag getrennt sein, ist der Anfang. Denn der Anfang ist eben wirklich der Anfang und Ursprung jenseits der ganzen Kette des Geschehens; der Punkt, da eben die Quelle entspringt, aber ihren Lauf noch nicht begonnen hat. Nach dem Anfang fragen, heißt nicht, in der lückenlosen Kette von Ursachen und Wirkungen, da jedes Glied nach vorwärts und nach rückwärts verflochten ist und seine Ursache ebenso wie seine Wirkung hat, nach der frühesten uns erreichbaren Ursache suchen; denn diese früheste Ursache ist selbst Wirkung einer uns nicht mehr erreichbaren Ursache, und die prima causa, die erste Ursache, ist ein Grenzbegriff, den unser Geist mit keinem Inhalt zu füllen vermag; sondern nach dem Anfang fragen heißt gerade danach fragen, was hinter dieser ganzen Kette von Ursachen und Wirkungen liegt, nach dem Schoß, dem sich die Zeit selber entwunden hat, heißt nach der „Ewigkeit” fragen, die nicht ein unendlich ist. Indem der Mensch nach dem Anfang fragt und von dem Anfang zu reden sich unterfängt, sprengt er sehnend, glaubend, ahnend den Ring alles Geschehens, greift hinaus in das ganz Unfaßbare, das nicht mehr irgendwo und irgendwann ist, das alles, was ist, aufhebt und trägt. Darum ist die Frage nach dem Anfang nur eine Form der Frage nach Gott. Und es gibt keine andere Antwort auf die Frage nach dem Anfang, als sie gegeben ist in dem Psalmwort: Ehe die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott. Und nun fragen wir noch einmal: was heißt das „im Anfang”? Wo steht es denn, wenn es am Anfang steht? Wenn der Anfang eben nur in innerhalb der Zeit. Aber weil nur jenseits des Zeitenablaufes der Anfang ist, darum ist auch kein Zeit„raum” zwischen dem Anfang und dem gegenwärtigen Heute. Der Anfang ist nicht Vergangenheit, sondern Ewigkeit. Die Ewigkeit ist aber ohne Unterschied der Zeiten. Vor Gott sind tausend Jahre wie der Tag, der gestern vergangen ist. Den ersten Akt des großen Welten- und Zeitenspiels mag irgendein uns ganz unvorstellbares Ereignis gebildet haben; kann irgend etwas anderes als müßige, unfruchtbare Neugier d a r -nach fragen? Aber „am Anfang” steht Gott, in dem wir leben, weben und sind. Was „im Anfang” ist, ist der tiefste und innerste Grund, aus dem in jedem Augenblick jedes Geschehen entspringt. Es ist eine eigentümliche, unübersetzbare Doppelbedeutung ebensowohl in dem griechischen Wort „arché” als in dem lateinischen „principum”. Es ist eben nicht nur der zeitliche „Anfang”, sondern das, was zugrunde liegt, was sein innerstes Wesen und seine bewegende Kraft ist, die geheimnisvoll gestaltende Macht, die „vor” allem andern und einzeln da ist und um derentwillen alles werden kann und werden muß, wie es ist. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.” Daß die Sonne scheint, daß die Blumen blühen, daß die Berge stehen, die Ströme fließen, daß Menschen geboren werden, wachsen und leben, das alles ist in jedem gegenwärtigen Augenblick geheimnisvoll getragen und bedingt von dem einen: im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Ja, selbst die Sprache verrät noch ein geheimes Wissen darum, daß es sich hier nicht im gewöhnlichen Sinn um Vergangenheit handelt; nicht um ein einmaliges, sondern ein immerwährendes, zeitloses und jeder Zeit zugrunde liegendes Geschehen handelt es sich; daß Gott Himmel und Erde schafft, ist Anfang und Grund aller Dinge. Daß wir die Sehnsucht nach Gott in uns tragen und mit Gott zu reden wagen, daß Christus erschienen ist in der Zeit, und daß es eine von Gottes Geist zusammengerufene Kirche in der Welt gibt, daß wir nach Gott fragen, zu Gott beten und auf Gott hoffen, das alles ist darum und nur darum wirklich, weil „im Anfang das Wort war”. Das, wovon alles herkommt, ist nicht in unendlicher Ferne; weil es vor aller Zeit ist, erfüllt es erst jeden Augenblick mit seiner Kraft. Aber es ist eben wirklich der Anfang. Und es gilt in einem viel tieferen Sinn als in dem des zeitlichen Abstandes, daß alles wirkliche und irdische Geschehen sich von seinem Ursprung ebenso entfernt, wie es sich davon nährt. Der Anfang ist immer wie der Mutter Schoß, in den der Mensch, einmal geboren, nicht wieder zurückkehren kann; wie das Paradies, aus dem er an der Schwelle seiner Geschichte vertrieben ist. Und nur in diesem Rätselwort ist wirklich von dem, was im Anfang ist, recht geredet: indem wir leben, leben wir aus dem verborgnen Ursprung; aber indem wir leben, entfernen wir uns zugleich von diesem Ursprung. Was im Anfang ist, ist uns ganz nahe und ganz ferne zugleich. Und von diesem Anfang, in dem alles Leben der Welt entspringt, und von dem wir uns doch jeden Augenblick wie Wanderer von ihrer Heimat entfernen, ist nichts anderes zu sagen, als daß Gott schafft und redet. Das Gottesjahr 1928, S. 32-34 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-13 |