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von Adolf Köberle |
Das Kind, das träumend und spielend in der Wiege liegt, dem Zeit wie Ewigkeit ist - der Mann, in der vollen Kraft seines Berufes, der die Stunden und Minuten des Tages bis an den Rand gedrängt tätig ausfüllt, der Greis, der die jagende Hast des Lebens hinter sich hat und gefaßt auf die nahe Sterbensstunde wartet, ihnen allen schlägt die gleiche Uhr mit gleichem Schlag Tag um Tag, und doch wie unerklärbar verschiedenartig ist das Maß und Gefühl, mit dem von jedem das Wesen der Zeit empfunden wird. Ungestüm stürzt beim Beginn seines Laufes der Fluß von den Bergen zu Tal, fröhlich treibt er durch die Ebene in der schießenden Kraft überwundener Gefälle, aber halb wird der Stromlauf mit wachsender Breite langsamer und schwerer, bis er schließlich in majestätischer Ruhe in das weite Meer mündet. Genau umgekehrt wie in der Natur empfinden wir Menschen den Strom der Zeit. Der Morgen des Lebens, Kindheit und Jugend, ist wie ein sonnenbeleuchteter, ruhender See, an dessen Gestade es sich überall gleich lieblich wohnen läßt. Werden wir älter, so ist es uns, als beginne das Wasser sich in Bewegung zu setzen, es drängt und strömt nach vorwärts, immer unheimlicher und rascher fahren die Wellen dahin und münden nur zu oft in plötzlichem, reißendem Abfall am Ziel. „Wie ein Strom beginnt zu rinnen und mit Laufen nicht hält innen, so fährt unsre Zeit von hinnen”. Man braucht nicht erst sechzig oder mehr Jahre alt geworden zu sein, um das begreifen zu können. Das ganze Leben um uns her ist voll von Abschiedsmusik für den, der sie zu hören versteht. Jeder vorübergeeilte, sinkende Tag redet davon, daß bald die Nacht kommen wird, da niemand wirken kann. Jede Jahreswende erinnert uns daran, daß wir Wanderer sind, die hier keine bleibende Statt haben. Der Abend des Lebens weist hin auf den Abend der Welt. Die Ernte auf den Feldern ruft uns zu: es geht durch Wachsen und Reifen gar rasch dem Schnitt entgegen, wo Frucht gesucht und gesammelt wird. Jede Krankheit, die im vergangenen Jahr unsern Körper erschüttert hat, die unmißverständliche Sprache des Alterns auf unserem Angesicht bringt uns zum Bewußtsein, daß Schönheit und Kraft des Leibes, diese stolzen Fundamente unserer Existenz, in dieser Welt nichts Ewiges sind. Wenn wir durch die unaufhörlich wachsenden Gräberreihen unserer Großstadtfriedhöfe gehen, wenn wir an altehrwürdigen Orten großer historischer Vergangenheit stehen, überall hören wir den unheimlich eilenden Schritt der Zeit, die auch uns mit dahinreißen wird, „als flögen wir davon”. Oder wenn liebe Menschen, kaum gegrüßt, sich wieder trennen müssen, wenn neue Stätten, kaum zur Heimat geworden, schon wieder verlassen werden müssen, so schmerzt uns abermals die Flüchtigkeit der Zeit, die uns auf keiner Stelle ruhen läßt. Wenn Kierkegaard diese Abhandlung schrieb mit der ausdrücklichen Absicht, um auch damit „auf das Christliche aufmerksam zu machen”, so wollte er damit nichts anderes verkündigen als der Psalmsänger, der zu Gott ruft: „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden!” Es ist ein großer Dienst, den diese Einsicht in den flüchtigen, verzehrenden Charakter des Zeitstromes unserem Leben erweist. Es vollzieht sich von da aus eine Umwertung aller Werte. Die kurzsichtigen Größenmaßstäbe unseres Sichtbarkeits-Denkens verschieben sich. Scheinwerte, an denen wir klebten, verlieren ihren flimmernden Glanz, und wir lernen nach Schätzen fragen, „die weder Motten noch Rost fressen und denen die Diebe nicht nachgraben können”. Für gewöhnlich empfinden freilich nur die wenigsten Menschen das schicksalsschwere Rätsel des Zeitlaufs, soviel Abendläuten-Zeichen Gott auch in diese Welt gesetzt hat. Wir haben alle mehr oder weniger eine große Geschicklichkeit, sie zu überhören. Über dem Wohlstand, dem künstlerischen und vitalen Genuß eines behaglichen Lebens vergißt man den entscheidungsschweren Charakter jeder Stunde. Der Stromlauf wird zum Binnensee. Allein wir brauchen nur einmal in eine wirklich schwere Not oder Anfechtung hineinzugeraten und sofort trifft uns die ganze unheimliche Wucht des Zeitproblems. Das gleiche Streckenmaß, das wir an dem einen Tag als Schlachtenbummler gedankenlos zurückgelegt haben, kann am folgenden Tag, wenn gekämpft werden muß, uns wegen seiner Inhaltsschwere in zitternder Spannung bedrücken. Die einer Kriegserklärung unmittelbar vorhergehenden Verhandlungen, einige wenige Urlaubstage zwischen zwei Weltfrontenschlachten, die letzten Stunden vor einer Operation, wo das Leben auf dem Spiele steht, die ringenden Gespräche mit einem Freund, der jeden Halt verloren hat, die Abschiedsstunden vor der Ausreife auf das Missionsfeld mit der damit unvermeidlich gegebenen jahrelangen Trennung von den Kindern - in all solchen Fällen erfahren wir erst, was Zeit für ein Geschenk ist, wundersam ernst und gnadenreich, wie sie gefüllt sein kann und stets gefüllt sein sollte mit ehrfürchtiger Verantwortlichkeit, mit hingebender, dankbarer Ausnützung statt mit gleichgültiger, aufschiebender Trägheit. Hat aber der Zeiger seinen Rundlauf vollendet und die Stunde ausgeschlagen, dann ist das Geschehen mit unabänderlicher Härte für alle Zukunft festgelegt. Der Strom geht weiter und kehrt nie mehr zurück an seinen Ort. Das ist das Unheimliche an der Zeit, ihre „Nichtumkehrbarkeit”, wie man es schon genannt hat, daß man nicht wie beim Raum beliebig viele Male an dieselbe Stelle wieder zurückgehen kann. Wir können wohl als Erwachsene die Stätte unserer Kindheit wieder aufsuchen, aber wir können nicht mehr Kinder werden. Der Raum steht, die Zeit fließt. Nicht an der Erscheinung des Alters erfahren wir diese Erstarrung der Vergangenheit am schmerzlichsten, sondern an der Tatsache der Schuld. Wenn ein wichtiger Brief aus Trägheit zu spät oder im Jähzorn zu rasch abgegangen ist, wenn wir köstliche Jahre der Entwicklung verschlafen haben, wenn der Leib durch mangelnde Zucht und Übung ruiniert ist, wenn wir versäumt haben, vom Tod heimgerufene Eltern oder Geschwister, solange sie noch bei uns waren, liebreich zu pflegen und zu ehren, so ist das durch keine noch so verzweifelte Anstrengung jemals mehr wieder gutzumachen. Der Versuch, den ganzen Jammer einfach zu vergessen, wird uns nie gelingen, selbst wenn wir zu groben oder feinen Betäubungsmitteln greifen. Denn abgesehen davon, daß in den meisten Fällen die Tatsächlichkeit des Leiden-Müssens sichtbar anschaulich von einem Gericht Gottes über unser Leben zu uns spricht - unser von dem anklagenden Gewissen belebtes Gedächtnis ist erschreckend gut und meldet sich mit unbestechlicher Wächtertreue immer aufs neue wieder. Vom Tod in letzter Stunde Gerettete berichten, daß in den Augenblicken unmittelbar vor dem Sterben noch einmal das ganze Leben wie ein Filmstreifen blitzartig, aber in überwältigender Deutlichkeit an unserem geistigen Auge von rückwärts nach vorne vorbeizieht, wobei jeder Flecken sichtbar wird. Auch der andere Ausweg, eine beladene Vergangenheit durch ein um so größeres Maß von sich opfernder Hingabe später wieder auszugleichen, versagt. Denn selbst wenn uns die späteren Akte des Lebens besser gelängen als die ersten - wenn Gott überhaupt ist, dann ist er der Herr der g a n z e n Zeit und will auch, daß die ganze Zeit ihm gehört. Jede wenn auch noch so weit zurückliegende dunkle Stunde unseres Lebens, ja schon jede leere, nicht erfüllte Stunde, bleibt mit der Unabänderlichkeit zeitlicher Verfestigung ewig vor ihm stehen und verklagt uns. So lehrt uns die Einsicht in das eherne Gesetz der unaufhaltsam strömenden Zeit so dringlich wie nichts anderes die Notwendigkeit, vor Gott die fünfte Bitte, das Dona nobis pacem zu sprechen und von seiner Barmherzigkeit zu leben. Wir müssen durch unsere Armut und Sünde im Geist davon Kunde gehen, daß wir Gott n i c h t haben, wir dürfen aber auch, um mit dem Galaterbrief zu reden, durch „Früchte des Geistes” davon zeugen, wie Gott groß wird unter denen, die ihre Zeit unter seiner Machtwirkung haben verwandeln lassen in „ein gut Land”. Beides aber, Weizen und Unkraut auf unserem Acker, drängt hin auf einen Tag der Ernte, da alles Schlechte, Faule, Hohle im Gericht enthüllt und von uns abgetan werden wird, und da der von Christus gesäte gute Samen zur Vollendung ausreift. Was aber vom Schicksal des Einzelnen gilt, das gilt auch vom Schicksal der Welt. Auch diese ganze Weltgestalt verlangt nach einem letzten Tag, mag er für unser Begreifen auch völlig unberechenbar, unvorstellbar, ja überhaupt unanschaulich sein, wo die uns jetzt noch umgehende, unvermeidliche, unentwirrbare Verschlingung von Gott und Satan in allem Geschehen ein Ende hat, wo Gott nicht mehr in der Zeit verhüllt um seine Macht ringen muß, sondern in sichtbarer Herrlichkeit triumphiert. Stärker als in früheren Jahrzehnten empfindet unser in seinen Grundtiefen erschüttertes Geschlecht heute wieder das Rätsel der Zeit. In allen philosophischen Schulen erwacht die Besinnung über das Wesen dieses Grundphänomens unserer gesamten Wirklichkeit. Man darf sich dieser Bewegung freuen, aber es gilt, sich auch hier klarzumachen, daß sich einem rein rationalen, betrachtenden Denken das Geheimnis der Zeit niemals erschließen wird. So wie nur der Liebende weiß, was Liebe ist, nur der Leidende, was Leid ist, so kann auch nur der von der Zeit und ihrer Flüchtigkeit Bedrängte, nur der die Zeit hingehend Auskaufende begreifen, was Zeit ist. Wer aber so im Wissen um die verantwortliche Entscheidung in ihr steht und sie gebraucht, der weiß sich ganz auf Gott geworfen als dem Herrn, der jedem kleinen Lebenstag wie dem Tag der Welt nach freier Wahl Anfang und Ende setzt, der auch allein wieder gutmachen kann, was der Einzelne wie der ganze Kosmos an ihm im Verlauf des Zeitstroms gesündigt hat. Getrost geht der Glaube durch das Dunkel der Zeit, sieht die Hinfälligkeit des eigenen Lebens, sieht das Sterben unseres Volkes, sieht die Katastrophen des Erdkreises und spricht: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig sind der Menschen Sachen!Das Gottesjahr 1928, S. 27-31 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-13 |