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von Erika Spann-Rheinsch |
Hier sitze ich auf einem Felsen in einer seligen Aue, die von himmelhohen Bergwänden im Halbkreis umschlossen ist. Hinter mir ist das Tal offen und wird erst in weiter Ferne von einem leuchtenden Gürtel beschneiter Zinnen begrenzt. Seligkeit, wie weit das Auge blickt, und Seligkeit nah und nächst. Mein Felsensitz ist mit blühendem, starkduftendem Thymian gepolstert. Dicht neben mir wachsen Orchideen, der Purpurstendel und die seltene grüne Weichorchis. Im Bereich meiner Hände steht Berufkraut und Alpenthymian, blaue Teufelskralle, gelber Wundklee und die gelbgrüne Simsenlilie. Schöne Rasen der schon verblühten Silberwurz, Blätter des Frauenmänteleins grünen dazwischen... Und indem ich die bekannten Gestalten meiner lieben Freunde, der Pflanzen, mit Entzücken betrachte, frage ich mich ernstlich: Was ist es denn eigentlich, was ich an euch sehe? Was seid ihr denn? Was bleibt denn, wenn ich von Art und Gattung, Farbe und Geruch absehe? Nur L e b e n bleibt dann, reines, lebendiges Sein. Aber wenn ich euch nur das Leben lasse, so seid ihr nicht mehr ihr selbst. Und jene Farben, Formen und Gerüche, die ich erst weggedacht, muß ich euch sogleich wieder zugestehen. Denn ihr könnt nur Leben sein in G e s t a l t . So wäret ihr denn Leben und Gestalt. Aber ihr seid noch mehr. Ihr seid viele, und seid einzeln nicht zu denken. Ihr lebt vergesellschaftet mit andern Pflanzen, ohne die ihr nie zu finden seid. Ihr wohnt auf diesem Kalkfelsen, der euch zusagt, der eure Nahrung ist. In den Blättern des Frauenmäntelchens blitzen noch die Tautropfen, die ihr andern schon getrunken habt. Allbeziehung weht sich hierhin und dorthin, ins Zukünftige und Vergangene, und so seid ihr denn auch L i e b e . Und nun mustere ich die schönen Blumen meines Felsensitzes noch einmal, ob ich sie auch ganz begriffen habe: Leben, Gestalt und Liebe, das finde ich bei allen und diese Dreiheit begreift alle anderen Merkmale in sich. Aber der Fels, auf dem ich sitze, ist der auch aus Leben, Gestalt und Liebe geschaffen, oder kommt ihm keins von diesen zu? Ohne Gestalt ist er sicher nicht, wenn sie auch gar zufällig abgebrochen und zugestückt, nicht von einem Lebenszentrum her gebildet erscheint. Aber hier ist ein Spalt im Felsen zu sehen: schöne hellgelbe Kalzitkristalle kleiden ihn aus. Hier ist Gestalt und Wachstum. Hier ist ein tief im Schlafe liegendes und dennoch nicht zu verleugnendes Leben. „Alles Metall meint Gold”, sagt Meister Eckehart, und sicherlich, aller Stein meint Kristall. Der Kristall verrät die Natur des Steines. Und so blicke ich zu den hohen Bergmauern auf, zu den gewaltigen Pyramiden und Kegeln, die sie krönen, welche zwar nicht kristallen, aber kristallverwandt sind, und ahne in ihnen allen lebendige Gestalt. Die Liebe aber fehlt ihnen keineswegs. Nicht nur daß Berg um Berg und Berg und Tal fest ineinander verankert und verwurzelt sind, - eine süße Schwere zieht sie alle der Mutter Erde in den Schoß. Ein Nördliches, ein Südliches durchwirkt und ordnet sie. Magnetische, elektrische Kräfte strömen pulsierend durch sie hin. Allen Augen sichtbar aber bieten sie sich an ihrer Oberfläche den grünen Pflanzen willig zur Nahrung dar, gehen in sie ein, kehren aus ihnen verwandelt wieder zurück. Leben, Gestalt und Liebe ist auch ihr Wesen. Wäre nur Leben, das wäre wie ein Feuer ohne Grenzen, aber auch ohne Brennstoff; wäre nur Gestalt, das wäre wie Grenzen keines Raumes, Gefäß keines Inhalts; ein Nichts in sich selbst. Bloße Liebe aber ist noch weniger denkbar; sie müßte allsogleich das Leben und die Gestalt erschaffen, um doch Liebe von etwas, nicht von nichts zu sein. Die Inder haben das Leben R a j a s genannt, das Leuchtende, die ewig ausfließende Leidenschaft, die Werdeluft, den Tatendrang der Welt. Die Gestalt nannten sie T a m a s , das Finstere, jenes Feste und auf sich selbst Zustrebende, sich in sich selbst Befassende, durch welches jedes Wesen es selber bleibt. Die Liebe aber hießen sie S a t t w a m , ein Wort sondergleichen, das Güte und Sein zugleich bedeutet; es ist das höhere, wahre Sein, das jene beiden, an sich leeren Potenzen durchdringt und zur Wirklichkeit erhebt. Diese drei, Rajas, Tamas und Sattwam, nennen die Inder Weltfaktoren, Weltstufen, - Gunas. Alles, was ist, besteht aus ihnen. Aber das Sattwam hat schon am Geiste teil. Rajas, Tamas und Sattwam sind nun als Materie in vielfacher Weise gemischt. Alle Dinge haben in verschiedenem Maße an ihnen teil. Aber ganz ohne eins von den dreien ist kein Ding. Und auch mir scheint es, als stellten sich Leben, Gestalt und Liebe in verschiedenem Grade an den Wesen dar. Die Steinwelt, dem Tode verwandt, erscheint dem Auge wesentlich als Gestalt. Die Pflanzenwelt als von stillem Leben schön und reich beseelte Gestalt. Die Tierwelt fast mehr als gestaltetes Leben denn als lebendige Gestalt - so ausbrechend ist sie, so wild und so beweglich; ihr Lieben launisch, auf wenige Ähnliche begrenzt. Als ruheloses, kaum gestaltetes Leben erscheint das Wasser, wo es im eigenen Bereiche auftritt, als Meer, als Fluß, als Regen, und das Feuer, ein Leben, das alles vernichtet, wonach es liebend greift! Gestalt und Liebe leuchten an den Gestirnen hervor, wie sie in wunderbarer Harmonie um einander kreisen und zu einander hinziehen und einander, den sichtbaren Kosmos bildend, die ewige Wage halten. Und ebenso bewegt sich die Gestalt und will sie selber werden. Es ist aber nicht die Gestalt ein Allgemeines und Eines wie das Leben selbst, sondern ein vielfach Bestimmtes, in der Vielheit begrenzt Erscheinendes. Das Leben, das unbekümmert mit dem Tode spielt, reißt die Gestalten, die gern im Sein verharren würden, stets in sein Werden und Vergehen hin. Die Gestalten aber können als solche nicht an jedem Wendepunkte da sein. Sie bedürfen der Vollendung oder der Schönheit. Reißt das Vergehen des Lebens sie über den Vollendungspunkt hinaus, so suchen sie einen anderen, oft weit entfernten Vollendungspunkt zu erreichen. Und so leben sie in W a n d l u n g e n . Die Raupe ist vollendet. Vollendet ist der Schmetterling. Was dazwischen liegt, hat kein Dasein als Gestalt. Die Verwesung der Raupe, die Auferstehung des Schmetterlings bleibt ein Geheimnis. Die Liebe selbst ist reine Spannung, lautere Bezogenheit. Sie ist eine schwingende Saite, an beiden Enden festgehalten. Leben oder Tod berühren sie nicht. Gestalt oder Wandlung sind ihr nicht wichtig. Nötig ist ihr, daß ein anderer das zweite Ende der Saite ergreife, es anspanne und erzittern lasse. Immer hat sie die Nichtliebe, die Kälte, die Trennung, den Haß zu überwinden, und nie überwindet sie ihn ganz und für immer. Darum lebt sie auch nicht in einem stillen Sein oder stetigem Fließen, sondern in pulsierenden Herzensschlägen, in L i e b e s a k t eyn . Nun aber ist die ganze Welt gleichnisweise auf dieses doppelseitige Wesen der Liebe hingestaltet. Männliches und Weibliches trennt und verbindet diejenigen, welche wir in besonderem Sinne die Lebendigen und Liebenden nennen, die Menschen und Tiere. Bis tief in die Pflanzenwelt hinab gestaltet sich Männliches und Weibliches sichtbar oder fast unsichtbar aus. Die dem Tode verwandte Welt mineralischer Wesen aber wird von gewaltigen polaren Kräften getrennt, vereinigt, geordnet und gestaltet. Diesem Kosmos der Natur baut sich, fast nur vom Menschen ausgehend, ein anderer Kosmos über, der der Kunst. Auch diese Menschenschöpfung muß Leben, Gestalt und Liebe haben, sonst wäre sie nicht. Aber sie hat es auf eine ganz eigentümliche Weise. Sie trägt nämlich nicht alles dreies in sich selbst. Sie ist wie ein Kind im Mutterleibe, das nie zu sich selbst geboren werden kann. Es lebt zwar, aber nur als seiner Mutter ein Teil. Und so auch die Kunst; sie lebt, insofern der Mensch sie liebend im Geiste behält; von ihm abgetrennt, ist sie nichts. Am meisten bestehen noch die Werke der Baukunst für sich, ähnlich den Wesen der Natur. Eine Pyramide ist einem Berge gar verwandt. Ihre Steine leben ähnlich wie der Stein des Berges. Ihre große einfache Gestalt gliedert sich in die Landschaft ein. Sie sagt dem Menschen zwar anderes und mehr, als sie den vorüberschweifenden wilden Tieren und Blitzen sagt; aber sie steht doch noch im Verbande der Natur. Ähnlich ein gotischer Dom. In ihm lebt noch der Stein, und die Gestalt ist steingemäß. Der Raum im Innern, das eigentliche Mysterium, ist dem Weltraume draußen verwandt und stellt ihn dar. Aber in der Seele des Andächtigen wandelt sich der Raum im Innern zum Sakrament. Und sein Auge sieht nicht mehr das Lasten des Steines, sondern dessen Steigen und Schweben. Auf dem Rücken der Erde lebt der Turm nur als schwere Last. Aber in der Seele des Beschauers lebt er eher wie ein sprossender Baum, wie ein Springbrunnen, wie eine Feuerfäule; ja, er reißt ihn gewaltig zum Himmel empor! Und so spielt auch von den Menschen zum Turm eine Liebe, die nichts mit den polaren Kräften der Natur zu tun hat. Mehr noch entfernen sich Statuen und Bilder vom Sein der Natur. Noch leben der Marmor der Statue, die Leinwand und der Farbüberzug des Bildes ihr naturhaftes Leben. Aber mit diesem Leinwand- und Marmorleben hat die Gestalt des Kunstwerks fast nichts mehr zu tun. Der Lebensgrund wurde zum Material, in welchem das geistige Leben des Menschen eine neue Gestalt erzeugt hat. Eine neue Liebe hält das Kunstwerk im Dasein fest, die Liebe des Schöpfers zu seinem Werk und derer, die es verstehen und denen es gefällt. Die aber lieben es nicht als ein Lebendiges und Liebendes, als von dem sie selbst wiedergeliebt werden könnten, sondern nur als losgelöste Gestalt, gleichsam als Schatten; nur als ein Spiegelbild ihres eigenen Innern. Endlich ergreift die Poesie die ganze Welt und schafft sie auf eine geheimnisvolle Weise neu. Das Fleisch wird Wort. Dieses Wort lebt kaum noch aus der irdischen Substanz (als Hörbares, Schreibbares, Sichtbares). Indem es nachgestaltet, berührt es die sichtbaren Gestalten der Dinge nicht mehr; denn nicht in Stein läßt es die Schwere, nicht räumlich den Raum, nicht mit Farben das Farbige, mit Tönen das Tönende erscheinen; sondern es symbolisiert sie unmittelbar und stellt sie geistig dem Geiste dar. Endlich aber, da nichts ohne Liebe bestehen kann, so lebt das Wort in der geheimnisvollsten Liebe zu den Dingen, deren Wort es ist: es ist nämlich sie selbst. Sicherlich, ohne Worte wären keine Dinge. Es sind nämlich die Dinge selber Worte, welche der ewige Geist gesprochen hat und ewig spricht. Indem er sie spricht, werden sie Fleisch. Sie sind ganz Leben, Gestalt und Liebe. Indem sie Fleisch sind, hören sie nicht auf, Worte zu sein. Aber nicht jeder vernimmt sie als Wort. Da kommt die Poesie und wandelt unter dem Fleisch und führt es wieder zum Wort zurück. Sie nennt die Rose Rose, als Sprache; und sie erklärt als Poesie, was denn mit diesem Worte gesagt sein soll; nämlich eine blühende Liebe. Sie sieht den Helden fallen und spricht als Sprache, der Held ist gefallen, und deutet als Poesie, was denn das sei, nämlich ein Eingehen durch den Tod in die Verklärung des Heroen. Sie spricht Hermann und Dorothea, zwei Namen von Menschen, und deutet sie als den deutschen Jüngling und das ihm von Gott geschenkte Weib seiner Liebe. So läßt also die Poesie alle Dinge ihr Wort sprechen, einzeln für sich und verbunden zu Sätzen und Sprüchen des Weltgeistes. Und je verbundener und reicher das Werk der Poesie ist, als Epos, als Drama, desto mehr ist es berufen, ein Abbild nicht nur einzelner Dinge und Geschehnisse, sondern des Kosmos zu sein. - Neben und über dem geistigen Kosmos strahlt der moralische oder ethische, jener aus dem Geiste, dieser aus der Seele des Menschen geboren. Die Welt des Guten baut sich reicher und großartiger auf als eine Alpenwiese und eine Felsenlandschaft. Tugenden, aus der Seele hervorblühend, durchdringen den Geist, das Leben und die Kunst. Sie nehmen Teil an allen Gestalten seiner Taten und Gedanken. Sie leben als ein höheres Leben in ihm und ziehen das niedere Leben des Körpers und der Sinne in ihr Licht. Sie sind selbst ganz und gar Liebe und nichts anderes. - Ist so der Kosmos der künstlerischen, geistigen und moralischen Welt auf dem Felsengrund der natürlichen immer höher gleich einer vielfach ineinander gebauten Burg erwachsen, so triebe das ganze Gebilde ins Wesenlose und Leere hinein, wenn nicht ein blauer Himmel von oben her sich darüber senkte. Die Welt der Religion erwächst aus jenen vorher genannten Welten nicht. Eher sprossen jene als Zweige aus diesem wipfelabwärts gerichteten Himmelsbaum. Ein ewig sich selbst erzeugendes, alles erschaffendes Leben lebt dort oben. Ein allgestaltendes Wort trat uranfänglich aus jenem Leben hervor. Und eine alles ergreifende Liebe verbindet das göttliche Leben mit dem göttlichen Wort und das göttliche Wort mit allen Worten, die es ausgesprochen und geschaffen hat. Dieser höchste und eigentliche Kosmos wirkt stets herab und zieht uns stets empor. Das uranfängliche Leben ist ausgeschlossen und weit und breit hinaus und unter sich geströmt und wollte sich endlich entfliehen in blinder Begierde und zum Tode werden. Die allbefassende Gestalt, das ewige Wort hat den Tod in sich aufgenommen und unsterbliches Leben wieder hergestellt. Die ewige Liebe hegt beides ineinander, stärkt und erhält die Natur, entzündet die Kunst, erfüllt die Erkenntnis, sendet das Gute, Wahre und Schöne - jetzt; und bringt endlich alles wieder zur Einheit in Ewigkeit. Das Gottesjahr 1926, S. 97-103 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |