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von Wilhelm Stählin |
...Auf daß sie alle eines seien, gleich Aber allzu leicht wird, was höchster Schwung und kühnste Hoffnung schien, zu einem Traumbild, ja zu einem Götzen, auf dessen Altar das wirkliche Leben und die wirkliche Gemeinschaft geopfert wird. Leben ist organisches Wachstum, und die Einheit der Welt ist die Einheit der unendlichen ringe, die um einen ewigen Mittelpunkt kreisen. Alles Lebendige muß zunächst „Individuum” werden, ein Einzelwesen, das sich „unter-scheidet” und löst aus der Masse des Ganzen, und das sein eigenes Leben gewinnen und bewahren muß. So wird auch der Jünger in der Stunde, da er zu wahrem Leben erwacht, „besonders genommen” und ganz persönlich „berufen aus der Welt”. Und ein jeder muß erst in dem engsten Kreis, da Ich und Du sich verbinden, erweckt und geübt sein zu dem gemeinsamen Leben, ehe er seinen Blick und seine Seele weiten darf zu einer allumfassenden Gemeinschaft. Darum gilt auch das Gebet Christi nicht für die noch unerlöste Masse der Welt, sondern für die Gemeinde der Jünger, die ihm der Vater gegeben hat; und erst von hier aus erobert die Macht der Wahrheit die anderen, die das Zeugnis des Lebens zur Erkenntnis und zum Leben geführt werden. Erst die fortzeugende Kraft der Wahrheit schafft eine Einheit; wie alles Leben nur in dem Wachstum der organischen Zellen die Stoffe der Erde sich verbindet und angliedert, so vollendet sich auch die Einheit der Welt nur in den wachsenden Ringen lebendiger Gemeinschaft. Aber in dem weitesten Kreis ist der engste nicht aufgelöst, sondern erst recht gesichert und geborgen. Was wäre der Bund ohne die persönlichste Freundschaft, was wäre das Volk ohne die in sich gefügte Familie, was wäre die weltumspannende Kirche ohne die einzelnen lebendigen Gemeinden, was wäre die Menschheit ohne das in sich geschlossene Volk, ohne Ehe, ohne Freundschaft, ohne jedwede Zelle lebendiger Gemeinschaft! Es ist aber neben der tiefen Verbundenheit und Zusammengehörigkeit alles Lebendigen von Urbeginn eine tiefe Kluft und ein unaufhörlicher Kampf zwischen Leben und Leben, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur, zwischen Volk und Volk. Am Busen der Natur, sehnsüchtig nach grenzenlosem Versinken in das strömende Leben, wird der Mensch des inne, daß er unwiderruflich anders und ausgeschlossen ist von dem Dasein der Natur; zwischen Ich und Du, zwischen Volk und Volk bleibt das letzte Nichtverstehen, ein letztes und unerbittliches Ringen um die Behauptung des eigenen Selbst, und es bleibt Spannung, Einsamkeit und Kampf die zweite Urtatsache neben allem Erleben der großen Einheit. Nur die Liebe überbrückt diesen Abgrund und macht wahrhaft aus Zweien eines, so wie der Sohn und der Vater eines sind, weil der Vater den Sohn liebt und der Sohn dem Vater gehorcht. Darum wächst die Einheit der Welt nur in dem Wachstum der Liebe. Das Gottesjahr 1926, S. 89-90 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |