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von Ernst Ortloph |
Wenn ein Menschenkind sich anschickt, seinen Weg über die Erde hin zu gehen und mit erwachsendem Bewußtsein sich Zug um Zug die Welt zu erobern, so findet es sich zu allererst umhegt von dem warmen Schoß der Familie. Wie unter einem sicheren Zelt geborgen, sieht es draußen die Welt ihr Spiel treiben, hört die Wellen des Lebens brausen und manchmal schlagen sie sogar in sein sicheres Asyl fühlbar genug herein. Aber es hat den festen Stand, von dem aus es der Welt wie einem Schauspiel gegenübersteht, das es gebannt betrachtet noch als eine fremde Welt, die doch einmal seine W e l t werden soll. Erst langsam öffnet sich eine Pforte nach der anderen zur Welt hinaus und es beginnt der Gang in die Weite, um nun selbst ein Glied an dem großen Körper und ein Rad in dem vielfältigen Bewegen, Welt geheißen, zu werden. So ist die Familie die Brücke und der Übergang zur Welt, nicht nur einmal am Anfang der Entwicklung, sondern dauernd und immer wieder. Bergender Schoß und fruchtbarster Boden des Lebens, Spiegel der Welt und Brücke zur Welt bleibt sie auch dem erwachsenen Menschen. Diese Mittelstellung der Familie ist eine der großen und wunderbaren Weisheiten der Natur, die wir so oft anstaunen müssen. Alles Leben entfaltet sich in Kreisen, engeren, weiteren, größten. Es ist kein Sprung vom Engsten zum Weitesten möglich, es will alles organisch entfaltet und übergeleitet sein. Brücken zu schaffen, vermittelnde Glieder einzuordnen, ist die sorgsame Vorsehung der Natur. Wenn das werdende Menschenkind, das eben erst staunend und zaghaft beginnt, sich selbst als ein Ich zu begreifen, sofort schon der ungeheuren Welt in ihrer Grenzenlosigkeit und Unfaßbarkeit gegenüberstünde, wie hilflos wäre es? Verwirrt und betäubt von dem Brausen der Stimmen und Dinge, die es nicht zu ordnen, nicht geistig zu bewältigen vermöchte, würde es hemmungslos im Strudel dahingetrieben werden. Da schiebt die Natur freundlich als Brücke den Kreis der Familie dazwischen, der Familie, die zugleich ein vergrößertes und erweitertes Ich und eine verkleinerte und eingeengte Welt ist; einerseits klein genug, um doch noch als ein zweites größeres Ich gefühlt und gegen die fremde Welt abgegrenzt werden zu können und andererseits groß genug, um doch zu einem Herausgehen aus dem engsten Lebenskreis der Individualität zu nötigen und die große Welt hier im Spiegelbild schauen und erkennen zu lassen. Wer dieses Gesetz der Vermittlung und seine Notwendigkeit verstanden hat, der wird auch von dieser Seite her die Unentbehrlichkeit des Aufwachsens der Kinder in der Familie und ihrer Erziehung in diesem Lebenskreis zugeben müssen. Wie der einzelne Mensch, so und in noch stärkerem Maße ist auch die Familie ein Mikrokosmos, ein Spiegel der großen Welt, von denselben Lebenskräften getragen, nach gleichen Gesetzen geordnet, gleichen Spannungen unterworfen wie jene. In der Tat, wenn vielleicht auch nicht alle, so doch die tiefsten und wesentlichsten Spannungen, die das Leben der Menschheit bewegen, durchziehen auch das Leben in der Familie und finden hier ihre wahre und fruchtbarste Lösung. Oft wird die Familie der Boden, auf dem die ursprünglichsten Menschheitskämpfe ausgetragen werden. Nur in zwei Linien wollen wir diese Tatsache verfolgen. Die Herbigkeit und gesammelte Kraft des Vaters, die Milde und Zartheit der Mutter, der führende gereifte Wille auf der einen und das tiefe innerliche Verstehen auf der andern Seite, der Schwung des Geistes und der schaffenden Tat des Mannes und das stille, seelenvolle Wirken der Frau oder mit welchen Ausdrücken nur immer man die wundervolle, mit Worten nicht zu erschöpfende Verschiedenartigkeit der Geschlechter nach ihren besten Seiten hin zeichnen will - das alles in seiner Unterschiedlichkeit und doch Einheitlichkeit wirkt wie Urkräfte der Natur auf das werdende Menschenkind, wie Sonnenschein, Wind und Tau, von e i n e m Himmel kommend auf die wachsende Pflanze wirkt. In Vater und Mutter, in einer Ehe, die wirklich ist, was sie sein will, erschließt sich ihm gefühlsmäßig die das ganze Leben durchziehende Polarität der Geschlechter und ihre Lösung. Dieselbe Spannung bei Gleichgestellten begegnet, wenn auch erst in werdender Form, dem Kinde wieder in dem Verhältnis von Bruder zu Schwester. Es ist ein Segen, wenn einer Familie Kinder verschiedenen Geschlechtes geschenkt sind. Hier kann das reifende Kind sich selbst an der Lösung der großen Frage versuchen. Ob es den Knaben und Mädchen gelingt, in männlicher Ritterlichkeit und weiblicher Betreuung der Aufgabe gerecht zu werden oder ob sie durch das Gegenteil oder durch karikierende Übertreibung sie verfehlen, immer reifen sie an dieser Spannung gerade in ihrer Geschlechtseigenart heran, lernen sich selbst verstehen und das andere in ihren Lebensumkreis mit herein nehmen. Vor allem erleben sie den Unterschied der Geschlechter in aller Harmlosigkeit als etwas Gegebenes, Bekanntes, ihnen Vertrautes. Eine ähnliche Spannung wiederholt sich in dem Unterschied der Generationen, in dem Verhältnis zwischen Alten und Jungen. Auch diese gespannten Kräfte bewegen die Menschheit. In gar manchem erschütternden Drama der Weltgeschichte ist der Gegensatz zwischen zwei Generationen das eigentliche Thema, aber auch im stillen wirkt er unablässig. Alt und Jung, das ist das andere Pfeilerpaar, auf dem sich das Leben in der Familie aufbaut. Hier wächst unter den Augen des älteren Geschlechts die junge Generation heran, zunächst ganz hingegeben in Gehorsam und Unterordnung, von den Eltern (oder Älteren) geleitet und betreut. Aber wohl jede Familie erlebt etwas von der Krisis dieses Verhältnisses. Wenn in der Jugend das brausende Innewerden des Eigenlebens und seines ursprünglichen Rechtes erwacht, wenn das junge Geschlecht sich innerlich und wie oft auch äußerlich von der Hand und Zucht der Eltern losreißen will, andere Urteile, andere Maßstäbe, andere Werte aufbringt und plötzlich etwas wie eine Revolution den ganzen Zusammenhang der Familie bedroht und zersprengen will, dann sind die Augenblicke da, wo hier auf dem Boden der Familie diese elementare Weltspannung erfaßt und gelöst werden muß. So wiederholen und spiegeln sich nach den verschiedensten Seiten hin die Spannungen des sozialen Körpers in dem Mikrokosmos der Familie und sie wird zu der eigentlichen und fruchtbarsten Schule des Gemeinschaftslebens. Mit denkbar größten Ansprüchen tritt der kleine Weltbürger ins Leben. Der natürliche Selbsterhaltungstrieb wirkt sich aus in einem uneingeschränkten Egoismus. Jedes Kind ist ein Räuber. Das erste, was es lernt, ist, die Schranken seines Anspruchs zu begreifen und auf die rücksichtslose Durchsetzung des eigenen Ichs zu verzichten. Es stößt auf einen anderen stärkeren Willen, der respektiert werden muß, es begreift das Du, es erkennt in den Eltern höher stehende Mächte, denen es sich unterordnen muß, in den Geschwistern gleichgeartete Wesen, deren Lebenskreis und Recht es als unverletzbar anerkennen muß geradeso, wie es das für sich selbst beansprucht. Es lernt statt einer zügellosen Entfaltung der selbstherrlichen Individualität sich begreifen als Glied eines Körpers, sich einordnen in das Ganze und seine Stelle darin erkennen. Die elementare soziale Tugend, die Gerechtigkeit, ist dann das vorherrschende Gefühl, mit dem das Kind Pflichten und Ansprüche des Lebens erfaßt. In jedem gesunden Kind lebt deshalb ein außerordentlich starker Sinn für Gerechtigkeit. Auf diesem Grund wächst es hinein in die höheren Aufgaben, die auch den Erwachsenen in der Familie immer wieder gestellt sind und die abermals die Familie zur kleinen Welt, zum Spiegel der großen Welt machen. Die Familie ist die ursprünglichste Stätte des gegenseitigen Dienens und Helfens. Hier lernt jedes begreifen, daß es Dienste von anderen braucht und anderen schuldig ist und daß jedes Glied seine eigentümliche Aufgabe im Ganzen hat. Auch die kleinen Dienste werden gesehen und geschätzt. Wie adelig ist das Walten der Hausfrau in den tausenderlei kleinen Verrichtungen des Tages, die mit der Selbstverständlichkeit und Lautlosigkeit hingebender Bereitschaft getan werden. Ein jedes fühlt sich getragen von den Kräften des Ganzen und trägt an seinem Teil das Ganze mit. Und das alles ohne alle Kunst und Zwang, naturhaft, herauswachsend aus dem Gefühl bluthafter, wesenhafter Zusammengehörigkeit, ein einzig schönes Beispiel dafür, wie die Natur emporgehoben wird zum Ethos. Die Kinderstube, so sagt die Volksweisheit, hängt dem Menschen durch sein ganzes Leben nach. Glücklich, wer heranwachsend in einem reichen gesunden Familienleben die innere Ausrüstung empfängt, die ihn befähigt, sich in die größeren schwierigeren Gemeinschaften des Lebens in rechter Gliedhaftigkeit einzufügen. Was aber in der „Kinderstube” versäumt ist, wird in der rauheren Schule des Lebens nur mit Schmerzen und oft gar nicht mehr nachgeholt. Wie schützend zieht die Familie um sich ihren sicheren Kreis und grenzt ihr Leben ab gegen die große, weite Welt. Aber die Welt draußen wirft doch ihre Bilder und Klänge in den stillen Kreis herein. Im traulichen Zimmer werden die Schätze der Welt aufgetan und mit Freuden genossen, ihre Fragen aufgeworfen, ihre Kämpfe miterlebt. Welches Stück Welt kommt schon täglich mit der Zeitung ins Haus. Ein anderes Stück ist der Beruf des Vaters. Seine sorgen und Nöte, sein Ringen und sein Erfolg ist ein Stück Weltleben in der Familie. Die Kinder erzählen von der Schule, von Freundeskreisen, von Wanderungen durch das weit Land. Im Schrank stehen Bücher gereiht, die besten Geister des Volkes halten Zwiesprache mit den Hausgenossen. Bildermappen breiten eine Welt von Schönheit und hohen Gesichten aus und dann und wann ist ein Abend erfüllt vom Klang der Musik, in der eine neue Welt ergreifenden und erschütternden seelischen Lebens sich öffnet. Und so ist die Familie denn auch die Stätte, wo die höchste Wirklichkeit dem Blick erscheint, der letzte Kreis, der alle Welt umschließt, das jenseitige Reich, die Ewigkeit. Die Familie ist der Mutterboden auch der Religion und wenn wir Gott unseren Vater und uns seine Kinder nennen, wird das ursprünglichste und heiligste menschliche Verhältnis zum Sinnbild der höchsten Gemeinschaft, zu der wir Menschen berufen sind. Gott neigt sich hernieder, um in dem klaren Spiegel menschlichen Einsseins sein Bild aufleuchten zu lassen. So durchschreitet der werdende Mensch von dem sicheren dem letzten, der unseren Blick begrenzt, und erfaßt in dem schlichten Symbol der Familie die heiligen Gesetze und tiefen Geheimnisse des Daseins. Das Gottesjahr 1926, S. 84-88 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |