|
von Wilhelm Stählin |
Alles Lebendige will reif werden und in seiner Reife sich vollenden. Der bräutliche Schmuck der Blüten, mit dem der Frühling Baum und Gesträuch umkleidet, dient im geheimen dem Sinn des Lebendigen, daß aus der Blüte die Frucht werde, die reif werden kann in der Sonnenglut des Sommers. „Wenn die Frucht gebildet und vollendet ist, dann ist das Pflanzenwesen reif geworden und der Ring seines Lebens hat sich geschlossen." Indem die Frucht reift, verherrlicht sie den Schöpfungsgedanken Gottes mit dem Lobgesang, der ihr gegeben ist; denn nun darf sie ein Werkzeug werden für Gottes kühnstes Schöpfungswunder, daß das Leben sich fortzeugt in seiner besonderen Art und in der Frucht den Keim des neuen Lebens trägt. Der Mensch steht nicht außerhalb dieser heiligen Ordnung alles natürlichen Lebens. Reif zu werden und in der Reife fruchtbar zu werden, ist seine Bestimmung. Hundert Lieder sind erklungen zum Preis des jungen Menschen, seiner Schönheit und seiner Glut, seiner sieghaften Freudigkeit, seiner unbegrenzten Möglichkeiten, und in tausendfachem Echo hat die Jugend selbst diesen Lobgesang zu ihrer eigenen Ehre gesungen: wir sind jung und das ist schön! Laßt uns ein anderes Lied singen zum Preis der Reife, zur Ehre des reifen Menschen, der nicht mehr jung genug ist, um zu schwelgen in Blüten, die dann ohne Frucht verwelken, der noch nicht zu alt ist, um nicht mit der Vollkraft des Lebens Frucht zu tragen und neues Leben zu zeugen. Die Reife, zu deren Ehre und Würde wir uns bekennen, steht nicht am Anfang, aber sie steht auch nicht am Ende, da sich der Lebenstag neigt zum großen Feierabend, sondern sie steht in der Mitte, auf der Höhe des Lebens, sein schöpferischer Mittelpunkt, die Gipfelhöhe zwischen Jungsein und Altern. Darum weihen wir den Mittwoch, die Mitte des siebentägigen Lebenskreises, die Mitte zwischen Ursprung und Vollendung, zwischen dem Wagnis des Lebens und der Weite der Welt, dem Gedanken an die Reife, in der unsere irdische Bestimmung sich vollendet, und sagen aus der drängenden Fülle der Lebensmitte wie aus der Mittagsglut eines reichen Sommertages: Jung sein ist schön, aber reif werden ist köstlicher. Es ist aber ein edler Stamm, an dem das Menschentum zu seiner Reife gedeiht, ein edles Gefäß, in dem die Reife unverwelkt bewahrt wird und immer von neuem sich verjüngt: die Familie. - Wenn die Zeit der Reife gekommen ist für den menschlichen Leib, dann ist er von Gott der höchsten Ehre gewürdigt, selbst schöpferisch zu werden, indem er neues Leben erzeugt und das erzeugte in mütterlichem Schoß bewahrt, bis seine Stunde gekommen ist. „In dem unerhörten Wunder der Fruchtbarkeit, der Zeugung und Geburt, erfüllt der Leib seine höchste irdische Bestimmung." Wehe, wenn seine edelste Kraft nicht keusch behütet ist bis zu den Jahren der Reife. Es ist das unbegreifliche Recht, der heilige Beruf des reifen Mannes, zu zeugen, der reifen Frau zu gebären. Aber je höher ein Lebewesen in der Stufenfolge der Kreaturen steht, desto weniger ist Zeugung und Fruchtbarkeit an die physische Erzeugung gebunden. Die reife Frucht fällt vom Baum und bedarf seines Schutzes und seiner Hilfe nicht mehr. Aber das Menschenkind bedarf, ehe es stark genug ist, sein eigenes Leben zu leben, der Hilfe, die ihm nur der reife Mensch, aus dessen Fruchtbarkeit es entsprossen ist, zu geben vermag. Darum wird der Beruf, der menschlicher Reife gegeben ist, nur in der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, vollendet und erfüllt. Die Familie ist die Stätte der Reife, und nur reifes Menschentum baut das Haus, in dem die Familie leben kann. Hier dürfen alle Kräfte der Reife strömen und wirken; hier darf junges Leben sich entfalten in Keim und Blüte und wird ohne Aufhören von der zeugenden Kraft des reifen Menschentums befruchtet und bereitet für eigenes Wachsen und Reifen. Reif werden, das heißt schlicht werden. Wie schlicht ist die Frucht, unscheinbar vor dem prangenden Farbenschmuck der Blüte; und wo wir uns ergötzen an den köstlichen Farben der reifenden Frucht, da belehrt uns meist sorgsame Betrachtung, daß die Farben nur an der bergenden Hülle (von Schein-Frucht redet die Naturwissenschaft) haften, hinter sich sehr bescheiden und unscheinbar die eigentliche zeugungskräftige Frucht verbirgt. Die Blüte will gesehen, will beachtet werden; darum ist Jugend anspruchsvoll und bedarf, wenn sie zur Reife befruchtet werden soll, daß sie mit rechtem Blick gesehen wird. Aber die Reife bedarf nicht des äußerlichen Scheins; sie kann verzichten auf die Schönheit der Blüte, mit heimlichem Lächeln kann sie welken und schwinden sehen den Schmuck der Jahre, die Anmut und den Reiz der Jugend; es ist ihr genug, wenn sie wirken darf und glauben, daß die befruchtenden Keime neuen Lebens von ihr ausgehen. Darum wird es der Jugend so schwer, einfach und einfältig zu sein, aber der Reife ist es natürlich, ist es Recht und Beruf, sich zu bewähren in der lauteren Einfalt. Reif werden, das heißt tapfer werden. Es ist etwas Köstliches um die flammende Kraft der Begeisterung, um die Kühnheit des ersten und ungebrochenen Schwungs, mit der ein junger Mensch das Leben bestürmt. Aber es ist viel Romantik darin, die die Wirklichkeit des Lebens verkennt und das Leben mißt an einem erträumten Bild. Das muß so sein, und gäbe es nicht die beschwingende Kraft dieser Ideale, so möchte das Wagnis des Lebens manch junges Gemüt erschüttern und ganz und gar entmutigen. Aber reif wird keiner ohne den tapferen Weg in die Wirklichkeit, und ganz nüchtern, ganz wirklichkeitsoffen, ohne Illusion und ohne Wehleidigkeit in der Welt stehen, wie sie ist, das ist die köstliche Frucht der Reife. Darum ist die unverdrossene Treue, die Woche um Woche, Tag um Tag den Weg in mühselige Arbeit Geht, und die Tapferkeit, die das Abenteuer des Lebens besteht, obwohl das Herz den Tropfen Blutes gesehen hat, der auf den Weg des Gralsritters gefallen ist, das Vorrecht des reifen Menschen. Reif werden, das heißt kindlich werden. Es sind Jahre, da muß der Jüngling und die Jungfrau das Gewand der Kinderjahre abtun, muß hineintauchen in die große Ernsthaftigkeit des Lebens, und manches junge Angesicht ist geadelt von frühem und schwerem Ernst. Aber wie alles Leben sich in der heiligen Ordnung der drei Stufen vollzieht, da die dritte der ersten benachbart ist, so wächst auf der Sonnenhöhe der Reife eine neue Kindlichkeit. Das Kind kann spielen und spielend lachen, bis irgendein Schmerz das Lachen in Weinen verkehrt; die Jugend kann fröhlich sein und übermütig und braucht darin ein Gegengewicht gegen die sie bedrängende Ernsthaftigkeit des Lebens. Der reife Mann, die reife Frau aber kann wiederum lachen. Lachen nicht mehr wie das Kind, lachen nicht mehr wie Knabe und Mädchen, wie Jüngling und Jungfrau. Es ist das Lachen, das aus tiefstem Ernst und großer verstehender Güte geboren ist, das Lachen, das um alle Tiefen weiß und eben darum die Furcht überwunden hat. Es ist das Lachen, das aus der großen Weisheit geschöpft ist und darum nicht mehr vor nichtigen Wichtigkeiten, auch nicht vor der Majestät des eigenen Ich in Ehrfurcht verharrt, sondern mit gütigem Humor - und was ist Humor anderes als fröhliche Güte! - das seltsame und immer von neuem erstaunliche Leben ergreift und seine Finsternisse durch die Güte und die Freude überwindet. Darum ist das höchste Zeichen und die höchste Ehre der Reife, daß wir wieder Kinder werden dürfen. Und es ist der Mann erst dann ein richtiger Vater, wenn ihn nicht mehr die Ernsthaftigkeit des Lebens von seinen Kindern trennt, sondern ihn zu Lachen und Spiel mitten unter ihre Schar treibt, und die Frau ist erst dann wahrhaft Mutter, wenn sie nicht mehr durch die Tragik des Lebens oder durch die schwere Goldkrone wahren Glücks von ihren Kindern geschieden ist, sondern wenn sie - anders als das Mädchen das jemals kann - aus den geheimsten Tiefen der wissenden Frau heraus wieder ganz fröhlich, ganz kindlich werden und - lachen kann. Der reife Mensch weiß, daß ein Leben, das nicht durch die Ernsthaftigkeit hindurch zum fröhlichen Lachen hindurchgedrungen ist, noch unter der Schwelle wahrhafter Reife steht. Auf der Höhe des Sommers blüht in den Gärten der Phlox in verschwenderischer Pracht und in dem ganzen Reichtum bunter Farben. In dem köstlichen Gartenbuch von Karl Förster steht der Satz: „Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum." Ich weiß von einer verehrungswürdigen Frau, die im Krankenhaus auf dem letzten Weg zu einer schweren Operation, die ihrem Leben ein Ziel setzte, als ihr letztes Wort dem Arzt dieses eine ins Ohr raunte: „Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum." Und ich weiß von hundert sehr ernsthaften Menschen, die dieses Wort nicht begreifen und es fast für unwürdig halten und Vernünftigeres zu sagen wissen. Aber die Reifen, die um die köstliche Weisheit der reifen Menschen wissen, die wissen, wie reif ein Mensch geworden sein muß, um diese Weisheit zu lernen. Das Gottesjahr 1926, S. 73-76 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |