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von Ludwig Heitmann |
Der Anfang, das Ende, O Herr, sie sind dein! Man darf nicht anfangen, darüber zu grübeln, wie diese furchtbare Tatsache mit dem guten, gnädigen Vaterwillen, den wir glauben, vereinbar sei. Dies Geheimnis ist uns gesetzt, damit wir dem letzten Willen der die Welt regiert, nicht allzu vorwitzig mit unserm Verstande nahen. Es ist die Schranke, die Gott zwischen sich und die Menschen gesetzt hat, damit wir Distanz halten. Wir wüßten auch nicht, was Glaube ist, der, alles ü b e r greifend, nicht b e greifend, den faßt, der im Himmel wohnt, wenn diese Schranke nicht wäre. Wir kennten nicht den Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit, die wirklich satt macht, wenn nicht der Irrweg mit seinem dunkeln Abgrund neben unserm Leben läge. Nicht darin, daß wir Menschen immer wieder einzelne Fehltritte und Irrgänge tun, liegt das schwere Geheimnis. Wenn es sich nur um sie handelte, dann könnten wir zu unsern aufgeklärten Vätern gehen und uns von ihnen den tapferen Sinn geben lassen, um mit diesen Seitensprüngen unseres Lebens fertig zu werden. Wir wollen sie gewiß nicht gering achten oder auf die leichte Achsel nehmen, denn der größte Teil unserer äußeren Lebensarbeit besteht darin, Irrtümer zurechtzustellen, Dummheiten wiedergutzumachen, falsche Berechnungen auszugleichen. „Es irrt der Mensch, solang er strebt.” Dies Irregehen an der Oberfläche des Lebens gehört - darin müssen wir unsern Vätern Recht geben - zu den gesunden und notwendigen Erfahrungen jedes Menschenlebens. Es ist eine wohlbegründete Praxis einer lebensfrischen Pädagogik, junge Menschen durch kräftige Irrtümer laufen zu lassen, damit sie um so sicherer den Weg der Wahrheit finden und festhalten können. Es ist ein philiströses Menschentum, das die Jugendbewegung darum verurteilt, weil sie durch viele Irrtümer gelaufen ist, die angeblich längst abgetan waren. Die Lebenssicherheit, mit der wir unserer Tagesarbeit gegenüberstehen, verdanken wir alle unseren Irrwegen. Wer sich nicht mehr als einmal gründlich verlaufen hat, wird niemals Kompaß und Karte richtig benutzen lernen. Aber dies alles bewegt sich auf einer Ebene, die noch gänzlich oberhalb der Lebenserfahrung liegt, in der der Irrweg sein düster-schicksalsschweres Geheimnis offenbart. Seine dunkle Tiefe fangen wir an zu ahnen, wenn uns eine erschütternde Stunde der Erkenntnis eines Irrweges überführt, der nicht wieder zurückgegangen werden kann. Der Weg unseres Lebens hat seine strenge Ordnung. Jedes Lebensalter trägt in sich die von dem Schöpfer bestimmten Aufgaben und Gelegenheiten. Unter aller Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, die jedem Menschenleben gegeben sind, liegt eine letzte Einmaligkeit, die erfüllt sein will. Wie nun, wenn dieses Eine nicht gesehen und nicht erfüllt wurde? Wenn an den Kreuzwegen unseres Lebens der eine Weg verfehlt wurde, an dem Gott stand? Wenn die Zeit des Lernens eine Zeit des Tändelns war? Wenn der Kampf der Jugend nicht ernst genug genommen wurde? Wenn das werdende Manneswerk die Hochspannung der Seele vermissen ließ, die es forderte? Wenn im dumpfen Kampf der dämonischen Gewalten gegen die Stimme des Gewissens das Fleisch stärker war als der Geist? Wenn die Opfer nicht gebracht wurden, die die Pflicht der Liebe von uns forderte? Hier hört die Durchschlagskraft der optimistischen Weisheit unserer klassischen Denker auf. „Der Irrtum verhält sich gegen das Wahre wie der Schlaf gegen das Wachen. Ich habe bemerkt, daß man aus dem Irren sich wie erquickt wieder zu dem Wahren hinwendete.” Dies Lebensbekenntnis unseres großen Dichters, der so glatt von dem „Irrweg” des ersten Faustteils in das Vergessen des zweiten hinübergleitet, reicht hier nicht aus. Das Erwachen aus solchem Irrwege ist alles andere als Erquickung nach gefundenem Schlaf. Es ist das Erschrecken vor der letzten Tiefe: „Der Übel größtes ist die Schuld.” Denn unter allen diesen Einzelerfahrungen des Irregehens in unserm persönlichen Leben liegt noch eine tiefere, allgemeinere Wahrheit, die das dunkle Geheimnis des Irrweges erst in seiner ganzen Größe offenbart, daß nämlich das Menschenleben, ja das Menschheitsleben als Ganzes dem Fluch des Irrweges untersteht. Diese Wahrheit wird dann sichtbar, wenn, wie durch einen jähen Blitz aus einer anderen Welt, plötzlich die Erkenntnis über das Ganze unseres Lebens zuckt, daß sein „Sinn” in eine verkehrte Richtung läuft. Es gibt Zeiten, in denen eine solche Erkenntnis auch nicht leise die Gemüter beunruhigt. Das Ganze des Lebens wird da als eine glatte Gleitbahn gesehen, die man nur recht kennen und benutzen lernen müsse. Wir leben noch mit einem Fuße in einer solchen vernünftig organisierten Welt. Aber mit dem andern Fuß schweben wir bereits über dem dunklen Abgrund. Wie eine furchtbare Erkenntnis beginnt es durch die Gemüter zu zucken, daß „wir alle in der Irre gehen”. Äußere Ereignisse - wie etwa der Krieg oder persönliche Katastrophen - können zur Auslösung dieser Erkenntnis einiges beitragen. Aber sie selbst erwacht aus anderen Tiefen, die sich unserer Beobachtung entziehen. Unmerklich und leise fängt sie an, das Leben zu durchfluten wie ein Gift, das nach und nach alle Lebensregungen lahmlegt und zu einer seelischen Leere führt, die das ganze Dasein als „sinnlos” empfindet. Die scheinbar noch gefunden, d. h. dem alten „Sinne” gehorchenden Teilgebiete des Lebens bäumen sich gegen diese Entleerung auf und suchen nun in krampfhafter, immer äußerlicher und gewalttätiger sich gebärdenden Betonung den alten „Sinn” zu behaupten. Wir können das in unserem Volke in immer neuen, tragischen Formen beobachten. Auf die Dauer ist dieser Kampf vergeblich. Die große Müdigkeit greift weiter und weiter um sich, bis die allgemeine Lähmung es unmißverständlich kundtut, daß der Irrweg Tatsache ist. Aber er wird angetastet, nicht von Menschen, sondern von einer unheimlichen Macht, die aus den Tiefen des Lebens aufsteigt und das Todeszeichen auf alle Werke der Menschenhand setzt. Daß dies alles, woran Menschen ihr heiligstes Wollen, ihr glühendes Geistesringen, ihre ganze Lebenskraft bis zur Erschöpfung hingegeben haben - ein Irrweg sei, wer kann es fassen? Aber wir müssen es fassen. Das „Ändert euren Sinn” ist das Schicksalswort unseres Jahrhunderts geworden. Denn ein neuer „Sinn” ist im Anzuge, vor dem der alte sterben muß; ein neuer Weg öffnet sich aus einer anderen Welt, der alle Menschenwege als Irrwege erweist. Dieser große Irrweg, auf dem unser Leben heute dahingeht, wirft seinen Schatten auf alle kleinen Irrwege, in die unser Lebenstag uns hineinführt. Die „Humpel- und Puppensünden” sind nur Hinweise auf die eine große Grundsünde unseres Geschlechts, unter deren Fluch wir stehen. Wir sind eine Gemeinschaft des Irrwegs, dem Bergsteiger vergleichbar, der sich verstiegen hat und nun vorwärts und rückwärts keinen Ausweg mehr sieht. Denn auf diesem Irrweg des Ganzen gibt es vollends kein Zurück. Keine Menschenmacht kann unsern Kulturwillen, unsere Wirtschaftsentwicklung, unsere Völkerzersetzung rückwärts wenden. Ihr Riesenstrom wälzt sich vorwärts, und wir werden mitgewälzt. Aber über dem dunklen Abgrund, dem wir zuwandern, leuchtet eine ewige Sternenstraße auf. Der neue Sinn, der die Menschenwege ablösen will durch den Gottesweg, leuchtet schon heute aus dem dunklen Geheimnis und wirft auf unsere irren Pfade den Glanz einer anderen Welt. Der in den Abgrund stößt, ist auch der Retter aus der Tiefe. Das Gottesjahr 1926, S. 64-67 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |