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von Wilhelm Stählin |
Der Knabe Parzifal spielt im tiefen Wald. Das Getöse ritterlicher Kämpfe soll nicht an sein Ohr dringen; von der Fülle und Weite der Welt soll er nichts erfahren. So will es seine Mutter Herzeleide; denn sie fürchtet, daß das Abenteuer des Lebens ihr den Sohn nimmt, wie es ihr den Gatten genommen hat. Aber wie ein süßes Wehtun fällt die Stimme des kleinen Vogels in des Knaben Herz und weckt namenlose und grenzenlose Sehnsucht; und die goldglänzende Rüstung des Ritters, der sich in das einsame Waldtal verirrt hat, weckt mit einem Male in der Brust des Knaben den Helden, der nach dem Abenteuer des Lebens verlangt. Frau Herzeleide kann nicht mehr halten und hüten und obgleich ihr Leib und Seele daran zerbricht, sie muß doch den Sohn ziehen lassen voll abgründigem Drang nach Leben und Abenteuer, nach Gefahr und Sieg. Parzifal, der in die Welt reitet, um das große Abenteuer zu suchen und zu bestehen, ist das Bild des Menschen. Das Kind darf und soll spielen in seinem Traumland, und wehe, wenn es zu früh hinausgestoßen wird auf Straßen und Kampfplätze, wo die ernsthaften Kämpfe des Lebens ausgefochten werden; dann wird das junge Leben, ehe Mut und Kraft in ihm haben wachsen können, überwältigt von den Widerwärtigkeiten und steht dann im Frondienst statt im ritterlichen Kampf. Aber irgendwann dringt das berauschende Lied des Lebens ein in die junge Seele und in irgendeiner Gestalt - ach es sind heute nicht goldglänzende Ritter! - lockt das große Abenteuer. Dann kann und dann darf keine Mutterliebe halten; dann kann kein Freundesrat vor Gefahren behüten, keine Warnung dem ungestümen Roß in die Zügel fallen. Neugier und schwellende Kraft, kühnste Träume von größten Dingen und verworrene Klänge von Arbeit und Leistung, von Freundschaft und Liebe, von Geschichte und Ewigkeit locken das erwachte Blut in das Wagnis des Lebens. Denn das Leben ist allerdings und immer von neuem ein Abenteuer, das gewagt werden muß. Gleich dem Ritter, der auf der unendlichen Fahrt nach dem verheißenen Gral seines Weges zieht, wohl wissend, daß er nie in den gleichen Ort zurückkehrt, daß er einen jeden Feind, der ihm gegenübertritt, immer nur in dieser einen Stunde der Begegnung bestehen kann, und daß er in einem jeden Augenblick wach sein muß für den großen Ruf, der an ihn ergehen soll, so geht auch der Lebensritter seinen unheimlichen Weg und ahnt das Geheimnis, das in dem Wort Schicksal beschlossen liegt: daß keine Stunde wiederkehrt, und daß eine jede Stunde, ein jeder Tag, jede Stufe des Lebens und jede menschliche Begegnung ihre besondere, einmalige und einzigartige Möglichkeit und Aufgabe in sich trägt. Das ist die Ernsthaftigkeit und Verantwortung in diesem Wagnis des Lebens, daß es keine Wiederholung kennt. Wenn Parzifal an Liasse oder an Kondwiramur gefehlt, wenn er in der Stunde, da er dem kranken Amfortas gegenübersaß, die Frage nicht getan hat, so kann er nicht umkehren, um nachzuholen, was er versäumt hat, sondern er trägt sein Versagen als Schuld in sich, die ihn begleitet auf dem ganzen ferneren Pfad. Parzifal reitet aus dem finsteren und unheimlichen Zauberwald in leuchtenden Sonnenschein, zwischen blühenden Wiesen, zwischen üppigen Fruchtgärten; Blumen sprießen zu allen Seiten und Vögel singen im Gezweig. Inbrünstig drängt sich Seele zu Seele und Leib zu Leib, um das größte aller Lebenswunder zu empfangen, die Liebe, die Ich und Du einander eint. Und doch ist auch der Liebende nicht außerhalb des Lebens, das Wagnis ist, und mehr als irgendwo sonst heißt es hier, wo der süßeste Kampfpreis lockt, das Abenteuer des Lebens zu bestehen. Daß nicht das jäh aufgeweckte Blut in wildem Ansturm den Menschen selbst über den Haufen rennt wie ein blindwütiger Riese Goliath! Daß nicht in köstlichen Spielen und süßer Tändelei der Drang in die Weite und die grenzenlose Sehnsucht erstirbt, daß nicht weiche Arme zu den stärksten Rettern werden, in denen der Mann sich zur Knechtschaft gewöhnt; daß nicht das gewaltige Erleben körperlicher Einung die letzte Erfüllung vortäuscht, in der der Geist zum Geiste sich findet; daß nicht mitten in dem Glück der Gemeinschaft die große Einsamkeit wie lähmende Angst über die Seele kommt, so daß sie nicht mehr den rettenden Ausgang findet in die große Liebe, die allein die Brücke schlägt über den letzten Abgrund, der immer jedes Du von jedem Ich trennt! Daß nicht das größte und heiligste Lebenswagnis selbst, zwei ineinander ganz verschlungene Leben, sich als ein törichtes und sehr unheiliges Abenteuer erweise, an dem beide, Mann und Frau scheitern müssen! Es gibt keinen Weg, der sicher und ohne Gefahr durch das Leben führte. Wenn Einsicht und Klugheit vor irgendeinem Wege warnt, weil er gefährlich sei, so darf man wohl die Frage dagegen stellen, ob es denn irgendeinen Weg für uns Menschen gäbe, der nicht gefährlich ist. Es gibt keine Erziehungsweisheit, die dem jungen Menschen die Schwierigkeiten und Kämpfe, die Leiden und Irrwege der Entwicklungsjahre zu ersparen vermöchte; es gibt kein Rezept, das dem Verhältnis der Geschlechter alle verborgenen Gefahren nähme und es dem einzelnen ersparte, selbst den unheimlichen und steilen Weg durch Brezeliand nach Monsalvatsch zu finden. Es gibt keine „Lösung” der großen Lebensfragen und Nöte, weder der Wissenschaft noch der Wirtschaft, weder der Erotik noch des Völkerkampfes. Es gibt keine Landkarte, die uns vor Irrfahrten und Umwegen schützen könnte. Nach dem verborgenen Sinn und Ziel unseres Lebens führt kein markierter Weg, und kein Grundsatz und keine Moral kann dem Menschen die süße Bitternis eigenen Wagens, Suchens, Ringens und Fehlens ersparen. Das Leben ist ein gefährliches Wagnis und das Leben lieben heißt mit Freudigkeit ausziehen, um das Abenteuer des Lebens zu bestehen. Aber es ist ein heimlicher Sinn in dem dunklen Drang, der uns aus dem Frieden kindlicher Träume in dieses Abenteuer treibt. Ueberall ist Monsalvatsch: „Der Berg der Erlösung”; und sein Heiligtum, das alle Wunden heilt, ist der Gral. Seit Parzifal von der unsichtbaren Burg, die überall ist, weil sie nicht irgendwo ist, und ihrem Gral weiß, weiß er, warum er reitet in grenzenloser Sehnsucht, zu unendlichen Abenteuern und unendlichen Leiden. Es gibt etwas zu gewinnen in dem Abenteuer des Lebens: den Gral zu finden und ein Ritter des Grals zu werden, das ist das Ziel. Dem Treuen, der kein Abenteuer gescheut und nie vor einem Wagnis zurückgeschreckt ist, der schuldig geworden ist, aber in seiner Schuld Ehrfurcht und Demut gewonnen hat, öffnet sich die Pforte von Monsalvatsch. Und was sind Kampf und Wunden, was sind Liebe und Leid, was sind die Schrecken des Zauberwaldes und alles, was in dem Abenteuer des Lebens gewagt, gewonnen, mißlungen und verloren wurde, wenn von einem Gral ein überirdisches Licht strahlt und eine Schönheit über alle Maßen uns beruft, daß wir ihr dienen dürfen! Das Gottesjahr 1926, S. 61-63 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |