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Die Heimat im Licht
von Wilhelm Stählin

Verkläre mich du, Vater, mit der
Klarheit, die ich bei dir hatte,
ehe die Welt war!  (Joh. 17, 5)

LeerDas Licht wird aus dem Schoß der Nacht geboren. Aber im Licht hat das Leben seinen Beginn. Mit der Geburt des Lichtes hob der erste Schöpfungsmorgen an. Das Chaos „lichtete sich” zur geordneten Welt.

LeerFür das Reich unserer Erde ist die Sonne, um die unsere Erde kreist und von der sie gehalten wird im unendlichen Raum, der königliche Spender alles Lichtes und darum alles Lebens. Wenn die Sonne am Morgen aufgeht, so besteigt der Herrscher seinen Thron; die gütige Mutter weckt ihre schlummernden Kinder; und alles, was lebt, streckt sich dem neugeschenkten Licht entgegen. Darum steht der Tag der Sonne am Eingang der Woche, und die Sonne allein ist würdig, irdisches Sinnbild und Gleichnis zu sein für den Herrn, dem der erste Tag gehört, weil ihm alle Tage gehören.

LeerFür uns Menschen aber ist das Licht das geheimnisvolle Gleichnis aller Wahrheit und aller Herrlichkeit, aller Reinheit und Lebensfülle, die unsere ahnende Seele erfüllt. Alles geistige Leben ist durch eine unstillbare Sehnsucht an die Welt des Lichtes gebunden. Sehnsucht aber ist Heimweh; die Sehnsucht nach dem verborgenen Ursprung. „Die Heimat der Seele ist droben im Licht”. Das ist mehr als sentimentale Schwärmerei von einem erträumten Jenseits; es ist der Glaube, der jenseits aller geschaffenen „Welt” und aller gewordenen und vergehenden Dinge seinen eigenen Ursprung erkennt und weiß, daß aller Lichthunger menschlicher Seelen ein Zeugnis ist von seiner Heimat voll unerschöpflicher Wahrheit, voll strahlender und scheinender Schönheit.

LeerDer Sohn des Vaters weiß, daß er „bei dem Vater” vor aller Welt, das heißt jenseits alles Raumes und aller Zeit, sein Wesen in ungetrübter Klarheit und Herrlichkeit hatte. In Gottes Gedanken liegt des Menschen Wesen und Leben in hüllenloser Schönheit, in ungebrochener Kraft beschlossen. In der Stunde aber, in der das Leben des Sohnes auf Erden vollendet und erfüllt wird, „verklärt” der Vater den Sohn und macht in ihm offenbar die verborgene Herrlichkeit und Würde der himmlischen Heimat.

LeerDarum ist der Sonn-Tag der Tag des Ursprungs bei dem Herrn, der Tag der Heimat in dem ewigen Licht; der Tag des Kindes, das in dem sein muß, das seines Vaters ist. Das Leben taucht ein in die Schönheit und den Glanz der unvergänglichen Sonne und entzündet und erwärmt sich von neuem an ihren mächtigen Strahlen. Das unergründliche Geheimnis, daß unser Menschenwesen nach einem himmlischen Bild geschaffen ist, das in den rätseltiefen Augen des Kindes und der unstillbaren Sehnsucht des Jünglings und in der ahnungsvollen Weisheit des reifen Mannes lebt, dieses Geheimnis steht am Tor einer jeden Woche, in der wieder der Kreislauf des irdischen Lebens sich rundet. Der Dienst des Sonntags aber ist Verklärung des Lebens: nicht der Schmuck äußerer Schönheit und der Überschwang des Gefühls, der hinwegtäuscht über die Öde und Sinnlosigkeit der Tage, sondern die Kraft, dem Leben Sinn und Klarheit zu verleihen und an ihm die verborgene Schönheit der himmlischen Heimat aufleuchten zu lassen. In der Lampe vor dem Heiligtum brennt das ewige Licht und an ihm werden die Lichter von neuem entzündet, die in dem Dunkel der Tage leuchten.

Das Gottesjahr 1926, S. 28-30
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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