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von Friedrich Seusing |
Es gibt jetzt viel Not in der Welt - auf allen Gebieten, wo man auch hinschaut, nicht bloß Deutschlands, sondern der Welt. Sehen wir auf das Wirtschaftsleben: im Osten - Hungersnot, im Westen - Überproduktion, in der Mitte Europas wahnsinnige Teuerung und Streik auf Streik. Im staatlich-politischen Leben stellt das Bild sich so dar: im internationalen Leben ohnmächtige Versuche zur Völkerannäherung, in den Völkern selber Kampf zweier Parteien, der Nationalisten, die das alte Regime in irgendeiner Form wieder herstellen wollen, und der Internationalisten, die in schwärmerischen Ideen zum Himmel stürmen wollen. Der Zustand des Geisteslebens im Leben der Völker der Gegenwart ist erschütternd, das Geistesleben ist dem Verfall anheimgegeben, vielleicht kann man überhaupt nicht mehr von Geistesleben sprechen, sondern nur noch von intellektuellem Leben, und wo man wirklich zu einem Geistesleben vordringen will, meint man, es von auswärts beziehen zu müssen, von Indien oder sonstwo her. So ist allenthalben Not, man versteht heute das Wort: Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an. Aber die größte Not - innerhalb des Geisteslebens - ist doch die religiöse. Worin besteht die religiöse Not der Gegenwart? Die heutige Menschheit findet nicht mehr den Zugang zu Gott. Entweder bestreitet sie überhaupt das Vorhandensein geistiger Grundlagen des Daseins, sie anerkennt bloß die sichtbar-sinnliche Welt und lehnt vollkommen eine geistig-göttliche Welt ab, aus der die sichtbare hervorgegangen ist - oder sie rechnet wohl mit dem Vorhandensein dieser geistigen Welt, erklärt aber, daß es uns Menschen unmöglich ist, den Zugang zu ihr zu finden, so daß der heutige Mensch dasteht - sozusagen wie ein: Welten-Eremit, stolz, selbstbewußt, aber auch einsam, verlassen, trost- und gottlos. Zweierlei kann der heutige Mensch nicht mehr, ohne das aber der religiöse Mensch, zumal der christlich-religiöse Mensch, nicht existieren kann: erstlich - er kann nicht mehr beten. Damit soll nicht gesagt werden, daß heutzutage überhaupt kein Mensch mehr beten kann. Natürlich gibt es auch heutzutage noch Menschen, die beten können, schlichte, stille Menschen, die in der Hauptsache unbeeinflußt sind von der Bildung unserer Zeit, und auch sogenannte Gebildete, die durch ein Lebensschicksal den Zusammenhang mit dem Göttlichen gefunden haben. Aber zwischen diesen beiden steht die große Masse derjenigen, die ganz in der Atmosphäre unserer Zeit leben und von diesen muß gesagt werden: sie können nicht mehr beten, wer das etwa ableugnen wollte, zeigt damit nur, daß er keine Augen hat zu sehen und keine Ohren zu hören. Das Buch der Welt, das Buch der Menschheit ist der Menschheit verlorengegangen, sie versteht es nicht mehr, sie verlacht es, lehnt es ab, wirft es in die Ecke. In diesen beiden: in der Gebetlosigkeit und der Bibellosigkeit der heutigen Menschheit steht die religiöse Not der Gegenwart vor uns. Woher kommt diese religiöse Not? Manche sagen, die Menschen glauben deswegen nicht mehr, weil sie nicht mehr glauben wollen, sie haben sich so in das Irdische versenkt, daß ihnen überhaupt der Gedanke an das Geistige unangenehm ist, sie wollen sich nicht verantwortlich fühlen, sie fürchten sich vor dem Geistigen, bewußt oder unbewußt, und deswegen diese große Gottlosigkeit, dieses Ablehnen alles Geistig-Göttlichen. Mag sein, daß das bei vielen der Fall ist, lange nicht bei allen. Die meisten unserer Zeitgenossen glauben deswegen nicht mehr, weil sie nicht mehr glauben können. Sie haben einfach keine Begriffe, keine Denkformen, mit Hilfe deren sie in die geistige Welt eindringen können. Die heutige Weltanschauung, die sogenannte naturwissenschaftliche Weltanschauung, ist so, daß man innerhalb ihrer kein Christ sein kann. Erwarte niemand, daß nun gleich auf diese heutige Naturwissenschaft und die aus ihr hervorgegangene Weltanschauung gescholten wird, im Gegenteil, man muß sie zunächst rühmen. Sie mußte einmal kommen, das lag sicher im Plan der Weltentwicklung, es mußte einmal für eine gewisse Zeit die göttliche Welt vergessen werden und die Menschheit sich ganz dem Diesseits zuwenden. Und was sind dadurch für Erfolge in der äußeren Welt erzielt worden? Unzählige Entdeckungen und Erfindungen sind durch diese Naturwissenschaft gemacht worden, ein ganzes technisches Zeitalter haben wir durch sie erlebt! Und auf die Seelenverfassung der heutigen Menschheit hat diese Naturwissenschaft und die aus ihr hervorgegangene Weltanschauung in gewisser Hinsicht sehr günstig gewirkt. Das Selbstbewußtsein, das gesunde Selbstbewußtsein des Menschen ist gesteigert worden, der Mensch fühlte sich nun ganz auf sich gestellt . . . nun, Mensch, zeige, was du kannst. . . Die Freude am Diesseits ist gemehrt worden, die Freude an der Natur ist wesentlich verstärkt worden. Man lese einmal Haeckels Altenburger Rede: „Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft”, da kann man etwas spüren davon, wie unzählige Menschen sich durch diese Naturwissenschaft befreit fühlten von veralteten Dogmen und Vorurteilen, und wie ihnen eine beglückende Ahnung aufging von Menschenwürde, von geistiger Mündigkeit. Aber das ist doch nur die eine Seite der Sache. Es gibt auch eine andere, und sie sieht also aus: Diese Naturwissenschaft hat ein ganz materialistisch-mechanistisches Weltbild vor die Menschheit hingestellt und innerhalb dieses Weltbildes ist das Christentum unmöglich. Was sagt diese Naturwissenschaft über die Natur? Sie ist ihr eine Weltenmaschine, in der alles rein mechanisch geordnet ist, alles ist letztlich Mechanik der Atome - kalt, herzlos, sinnlos rattert diese Weltenmaschine ab. In dieser Anschauung der Natur hat natürlich das christliche Vater-Erlebnis keinen Platz, man kann innerhalb dieser Naturanschauung nicht Gott - den Vater erleben. Im Zusammenhang mit dieser Naturanschauung hat sich eine Geschichtsbetrachtung herausgebildet, die für den Christus keinen Platz hat. Diese materialistische Geschichtsdarstellung ist doch so, daß man sagt: aus allerunvollkommensten Formen ist der Weg nach oben gegangen, vom Leblosen zum Lebendigen, zum Tier, zum Menschen, bis zur heutigen Menschheit. Aber wie kann man denn da den Christus unterbringen - in diesem Entwicklungsgang, den Christus, das göttliche Wesen, das zur Errettung der Menschheit niederstieg? Ja, einen Menschen Jesus von Nazareth kann man da unterbringen, aber der Christus, das göttliche Wesen, der Erlöser der Menschheit, ist innerhalb der modernen Geschichtsbetrachtung unmöglich. Und wenn wir nun an das denken, was diese Naturwissenschaft über den Menschen sagt, über seinen Körper, über sein Seelisch-Geistiges, dann sehen wir einen Konflikt mit dem christlichen Geist-Erlebnis heraufziehen. Was wir Seele nennen, ist nach Haeckel ja weiter nichts als die Summe unseres Empfindens, Wollens, Denkens, die Summe von psychologischen Funktionen, deren Erkenntnisorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. Und wenn wir zu unseren Psychologen gehen, auch da ist nicht die Rede von der Seele als einem selbständigen Wesen. Mehr oder weniger mündet auch da die Psychologie schließlich in die Physiologie. Innerhalb der modernen Art der Menschenbetrachtung kann das christliche Erlebnis eines ewigen Geist-Kernes im Menschen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Das ist die religiöse Not, in der die heutige Menschheit sich befindet; unzählige Menschen von heute möchten glauben, aber sie können nicht glauben, die heutige Weltanschauung, die gottlose, christuslose, geistlose Weltanschauung läßt sie nicht dazu kommen. Was haben denn nun die Christentumsvertreter bisher getan, um diese Not zu beseitigen? Viele unter ihnen erkennen diese Not noch nicht einmal bis auf den Grund, sie fangen an zu lächeln - hilflos oder überlegen -, wenn ihnen die Not so vorgeführt wird, wie es eben geschehen ist. Lassen wir diese Menschen, es sind blinde Blindenführer. . . Unzählige andere Christentumsvertreter erkennen aber doch diese Not vollkommen. - was tun sie dagegen? Denken wir zum Beispiel an den Katholizismus. Im Katholizismus ist man sich ganz klar darüber, daß diese moderne naturalistische Weltanschauung mit dem Christentum zusammen nicht bestehen kann, und deshalb hat man sie immer energisch von der Religionsausübung fern gehalten. Auf rein materiellem Gebiet dürfen die Katholiken diese Erkenntnismethoden anwenden, ja, sie sind sogar angehalten, mit ihrer Hilfe möglichst Tüchtiges da zu leisten, aber auf dem Gebiet des Heiligsten muß diese moderne Art schweigen. Deshalb die strikte Ablehnung des Modernismus, in dem versucht werden sollte, diese moderne Weltanschauung mit dem Katholizismus zu versöhnen. Im Protestantismus haben wir ähnliche Bestrebungen. Da gibt es ja sogar eine Schule, die das Prinzip hat, das Religiöse auf eine Insel zu retten, wo es unbehelligt vom wissenschaftlichen Denken der heutigen Zeit bleibt. Und wieviele ernste Männer im Geistesleben des Protestantismus gibt es sonst noch, die alle Weltanschauungsfragen beiseite schieben und nur rein religiös zu wirken suchen. Einer vor allem ruft den heutigen Menschen immer wieder zu: Was geht euch denn die Weltanschauung an, lebt doch nur wirklich intensiv, meistert euer Schicksal, lebt aus dem „Ja” heraus, seht, daß ihr mit euren Familien, mit euren Mitmenschen zurecht kommt usw., das ist wichtiger als aller Weltanschauungskampf. Wer der Stimme dieses Rufers im Kampf unserer Zeit einmal gefolgt ist, weiß, es geht so, aber nur eine Zeitlang, dann kommt wieder der Kopf und will sein Recht, Kopffragen, Kopfzweifel, Kopfgedanken stellen sich ein und lassen einen nicht zur Ruhe kommen - und der Mensch ist unglücklicher als zuvor. Es gibt noch eine andere Art, man geht auf die naturwissenschaftliche Art ein, nimmt ihre Denkweise an und sucht nun das Christentum damit zu versöhnen. Aber wie ist das nur möglich? Man gibt von dem Christentum ein Stück nach dem andern preis. Der Christus ist dann nur noch der schlichte Mann aus Nazareth, die Bergpredigt ist bloß etwas für die persönliche Sittlichkeit, das Christentum ist überhaupt nur so etwas, was das Leben verklärt, was aber nicht das Leben, die Welt umschaffen, vergeistigen soll. Die Wunder im Neuen Testament sind Übertreibungen oder Gleichnisse, über das Fortleben nach dem Tode soll man sich nur in allgemeinen Ideen aussprechen usw. Das ist die andere Art, mit dieser Not fertig zu werden. Wir fühlen wohl, daß diese beiden Arten nicht zu einem guten Ende führen, die erste birgt in sich die Gefahr der Verholzung, der Verkrustung, die zweite die Gefahr der Verflüchtigung, der Verwässerung, der Auflösung. Bei der ersten Art erstarrt das Christentum, bei der zweiten verflüchtigt es sich. Das ist also nun die Lage, in der wir uns der religiösen Not der Gegenwart gegenüber befinden, viele Christentumsvertreter sehen die Not noch gar nicht, die anderen, die sie sehen, wissen den Weg der Rettung nicht. Sind wir nun ganz dem Jammer überlassen? Oder gibt es eine Möglichkeit, die uns aus diesem Labyrinth rettet? Das ahnen wir wohl alle, helfen kann uns nur eine neue Weltanschauung, eine neue geistgemäße Weltanschauung, die der heutigen wissenschaftlichen Weltanschauung gewachsen ist, ja, ihr sogar überlegen ist, Es fragt sich nur, wie diese neue Weltanschauung im einzelnen gestaltet sein muß und ob es unter den heutigen Menschen solch einen großen, umfassenden Geist gibt, der uns diese Weltanschauung schenken könnte. - Das sind die zwei Fragen, die aus der religiösen Not der Gegenwart emporsteigen und mit ihrer Beantwortung entscheidet sich das Heil unseres Volkes und das Heil der gegenwärtigen Menschheit. Das Gottesjahr 1923, S. 44-49 Hrsg. Walther Kalbe © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-02-07 |